Berlinale „Systemsprenger“: Keine Hoffnung Kenia

Was geschieht mit Benni? Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ über ein schwieriges Kind, das zurück zur Mutter will.

Ein Kind steht in einem Wald

Die „Systemsprengerin“ kommt selbst im Wald nicht zur Ruhe Foto: kineo Film/Weydemann Bros./Yunus Roy Imer/Berlinale 2019

„Fick dich!“. Benni (Helena Zengel) ist neun und kleidet sich am liebsten in Pink. Wer ihr in die Quere kommt, kriegt schnell eins in die Fresse. Sie prügelt sich mit anderen Kindern, bespuckt ihre Erzie­her*innen und richtet die Gewalt auch manchmal gegen sich selbst. Sie kann ihre Gefühle schlecht kontrollieren, wurde als Kleinkind misshandelt und wird von einer Jugendeinrichtung zur nächsten abgeschoben. Das blasse blonde Mädchen ist sensibel, aber cholerisch; eine Armee von einfühlsamen Reform­pädagog*innen kümmert sich um es – und weiß auch nicht weiter. So die Ausgangslage in Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt „Systemsprenger“.

Für die geschlossene Psychiatrie ist dieses Kind noch zu jung, könnte wohl ein Spezialtrip nach Afrika helfen? Doch Benni will keine Wohngruppen, keine Beschulung und nicht nach Kenia. Sie möchte nur eines: wieder nach Hause, zu ihrer psychisch labilen Mutter, die mit ihren zwei jüngeren Geschwistern und einem gewalttätigen Mann zusammenlebt. In einer drastischen Szene macht die Regie deutlich, dass dies so nicht funktioniert. Die Polizei schreitet ein.

Für die wilde Benni scheint so ziemlich alles hoffnungslos. Ein schwer zu ertragender Zustand, den die Regie immer wieder mit kleinen Ausbrüchen, Musik und rauschhaften Rebellionen begleitet. Psychologen, Erzieher und Sozialarbeiterinnen verstehen zwar die Gründe ihres Verhaltens, haben aber gemäß dem Drehbuch weder Mittel noch Zeit, adäquat einzugreifen. Doch sind Eltern wirklich so unersetzbar, gerade die ohnehin Abwesenden? Laut Regie scheint es in dieser Story so.

Denn dies bleibt so, als Micha (Al­brecht Schuch), ein auf Gewaltprävention spezialisierter Erzieher, in das Filmgeschehen einsteigt. Sein Hobby ist Boxen. Er trägt echte Narben am Körper, hat selbst echte existenzielle Abgründe kennengelernt. Benni schleudert auch ihm anfangs ihr Schimpfwort „Erzieher“ entgegen. Aber nach und nach entwickelt sich eine empathische Beziehung zwischen den beiden.

Zu traumatisch

Wie Albrecht Schuch und Helena Zengel dieses Verhältnis vor der Kamera ausgestalten, gehört unbestreitbar zu den Stärken von Fingscheidts Spielfilmdebüt. Benni wird dabei die „Systemsprengerin“ bleiben, eine, die auch im Wald nicht wirklich zur Ruhe kommt. Eine Therapie in wenigen Tagen gibt es nicht. Zu traumatisch die Verletzungen in der Kindheit, zu fordernd und intensiv der Anspruch dieses Kindes, eine stabile Beziehung unterhalb einer 100-prozentigen Ersatzelternschaft eingehen zu können.

8. Februar, 15.30 Uhr, Berlinale Palast

9. Februar, 9.30 Uhr, Friedrichstadt-Palast

9. Februar, 12 Uhr, Haus der Berliner Festspiele

9. Februar, 20.30 Uhr, HAU

14. Februar, Sondervorstellung in der JVA Plötzensee

17. Februar, 18.30 Uhr, Berlinale Palast

Doch wie soll es die überhaupt geben? Im wirklichen Leben bräuchte jede Benni einen leibhaftigen Micha, der aber dann nicht nur so toll, brüchig und zugleich stabil wie in Fingscheidts Film sein müsste, sondern gleich gar nicht seinen Beruf als Sozialarbeiter ausüben dürfte, da die Lösung, wie der Film nahelegt, nur in einer vollen Adop­tivelternschaft läge.

Ist das nicht ein wenig konservativ gedacht? Ohne traditionell vorgestellte Familie kein kindliches Glück? Soll tatsächlich das ganze Streben von Sozialarbeit und Kinderpsychologie darauf ausgerichtet sein, die häufig so dramatisch scheiternde Lebensform Kleinfamilie im 1-zu-1-Maßstab zu restaurieren? Der „Systemsprenger“ suggeriert dies. Für Benni soll es keinerlei Platz und Lebensperspektive in den be­stehen­den Institutionen der Reformpädagogik geben. Doch sind es wohl eher klischeebeladene Erwachsene, die Angst vor einem Aus- oder Umweg über Afrika haben.

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