Berliner Mauerwanderweg (Teil 1): "Engel" bedeutet "Hindernis"

Rund um das Engelbecken zwischen Kreuzberg und Mitte beginnt nach der Wende eine deutsch-türkische Vereinigung. Manches Vorurteil über die andere Seite löst sich dabei auf unerwartete Weise auf.

Die 1. Etappe Bild: Infotext / M. Kluger

160 Kilometer lang war die Mauer, die Westberlin vom Osten trennte. Von kleinen Umwegen abgesehen, kann man noch immer den Grenzverlauf abradeln oder -laufen, wie die taz in ihrer Sommerserie zeigen wird. In 15 Folgen à rund 10 Kilometer schildern taz-Redakteure, was man entlang dem offiziellen "Berliner Mauer-Radweg" erleben kann - zu Fuß!

Das erste Teilstück führt vom Brandenburger bis nah ans Schlesische Tor in Kreuzberg. Vorbei an den Orten der stolz protzenden Selbstinszenierung der neuen, alten, wiedervereinigten Hauptstadt am Potsdamer Platz führt der Weg dorthin, wo zusammenwachsen musste, was sich vorher kaum je als zusammengehörend betrachtet hatte: das sehr deutsche Ost- und das hier sehr türkische Westberlin.

Weitere Sehenswürdigkeiten auf der Strecke: Auf dem Bethlehemkirchplatz zwischen Leipziger Straße und Checkpoint Charlie zeigt ein Mosaik den früheren Standort der 1943 zerstörten Bethlehemkirche an, die von evangelischen Glaubensflüchtlingen aus Böhmen errichtet wurde. Etwas weiter lädt das taz-café in der Rudi-Dutschke-Straße zur ersten Pause auf der Strecke ein.

Es folgen das Engelbecken, der Kinderbauernhof am Bethaniendamm, Osmans Schrebergarten auf einem Stück früheren DDR-Geländes, das auf Kreuzberger Seite der Mauer lag, sowie die East Side Gallery an der Mühlenstraße, die derzeit renoviert wird.

Alle Etappenbeschreibungen erscheinen unter taz.de/mauer

Hier ist es auch bei Regen schön: Die Tropfen tanzen auf der blanken Fläche des Engelbeckens Ballett. Die längliche, oben abgerundete und unten barock eingebogene Form und die Laubengänge rundherum lassen das Becken wie einen Spiegel aussehen. Im Winter kann man auf der fußballfeldgroßen Fläche Schlittschuh laufen und Eishockey spielen. Das Wasser ist nicht tief, das Eis trägt schnell. Bei schönem Wetter strecken vier Wasserschildkröten ihre greisenhaften Köpfchen in die Sonne. Sie seien vor einigen Jahren dort ausgesetzt worden, erzählt der Wirt des Cafés am Engelbecken. Cafégäste füttern sie mit Brot, um das sie mit Fischen, Spatzen und Möwen streiten müssen.

Die Bebauungen an drei Seiten des Engelbeckens, das an der vierten in die Grünanlage Richtung Oranienplatz mündet, sind auffallend unterschiedlich: auf Kreuzberger Seite die typischen, teils schmuck stuckverzierten Altbauten wie der Engelbeckenhof, auf ehemals Ostberliner Seite, jetzt Mitte, ebenso typische Plattenbaukolosse, längst modernisiert und mit bunten Balkonen verschönert. Vom Café aus rechts sieht man auf Neubauten, wie sie seit den Neunzigern überall entstanden sind: Beton und roter Stein, viel Glas und Stahl - postmoderne Beliebigkeit mit Aufzug, Einbauküche und Marmorbad. Die Mieten sind hoch.

Die Neubauten stehen auf dem ehemaligen Grenzstreifen, der hier Ost- und Westberlin in ungewöhnlicher Breite trennte. Grund dafür war das Engelbecken: Jedem Zugang verschlossen lag das Bassin, einst Teil einer eleganten, von dem Landschaftsarchitekten Peter Joseph Lenné 1840 entworfenen Grünanlage, hier im Niemandsland. Nach Kriegsende war es mit den Überresten zerbombter oder später abgerissener Häuser zugeschüttet worden. Erst zehn Jahre nach dem Mauerfall, 1999, wurde das Becken freigebaggert: Auftakt zur Wiederherstellung der alten Anlage. Es füllte sich damals ganz von selbst mit Wasser und wurde prompt wieder eingezäunt, da keiner wusste, woher das Wasser kam.

Als ich damals in eins der Plattenhäuser am Engelbecken einzog, gab es dort eine einzige türkische Mieterin: K., die als Kommunistin in den Achtzigern aus der Türkei in die DDR geflüchtet war. Meine ansonsten deutschen Nachbarn betrachteten das türkische Leben in Kreuzberg nach wie vor aus der Distanz. Anders als K.s Sohn gingen ihre Kinder nicht dort zur Schule. Sie kauften auch lieber im Kaufhof am Alex als bei Karstadt am Hermannplatz ein. Bei meinen Recherchen für einen Radiobeitrag über das Zusammenleben zehn Jahre nach dem Mauerfall klagten beide Seiten über die Zunahme von Autodiebstählen: "Das sind die Türken aus Kreuzberg", hieß es auf Mitte-Seite. Diese glaubten ihrerseits: "Das sind die Polen, die jetzt alle herkommen dürfen." "Engel" bedeutet im Türkischen übrigens "Hindernis".

Erster Annäherungspunkt der neuen Nachbarn war die Aldi-Filiale, die in den neu erbauten Häusern auf dem ehemaligen Grenzstreifen eröffnete. Mittlerweile hat sich hier auf dem ehemaligen Niemandsland zwischen Ost und West eine bunt gemischte Bewohnerschaft niedergelassen: Der Kiosk gehört einem Kurden, der Thai-Imbiss Vietnamesen, der Bäcker Russen. Explattenbauler wohnen neben türkischstämmigen Exkreuzbergern. Die russische, die chinesische und die türkische Botschaft haben in den komfortablen Häusern Wohnungen für Mitarbeiter gemietet oder gekauft.

Bild: Infotext / M. Kluger

Auch das Café am Engelbecken gehört jungen Deutschtürken. Vor Jahren erzählten sie mir davon, wie schwer es war, ihre Geschäftsidee umzusetzen: Den Behörden von Mitte und Kreuzberg war damals nämlich nicht klar, welcher Bezirk eigentlich für die Genehmigung des kleinen Häuschens, für die Anschlüsse an Strom, Wasser und Kanalisation zuständig sei. Nicht einmal eine richtige Adresse gab es anfangs für das Café. Heute sitzt man unter Palmen direkt am Wasser und kann den Spaziergängern zusehen.

In Richtung Osten zwischen Bethaniendamm auf Kreuzberger und Engeldamm auf Mitte-Seite ist die Grünanlage auf dem alten Mauerstreifen ebenfalls wiederhergestellt.

Hier, in einem der Häuser an dem auf Ostberliner Seite gelegenen Stück der Adalbertstraße, lebte Ende der 80er ein Mann, den ich Jahre später bei meiner Nachbarin K. kennenlernte. Er hat mir damals seine Mauerfallgeschichte erzählt, die wunderschön aufzeigt, wie Vorurteile entstehen und sich auflösen können: Als Bauarbeiter war er in den späten Achtzigern aus der Türkei nach Ostberlin gekommen; wegen der massenhaften Republikflucht holte kurz vor ihrem Ende auch die DDR Arbeitskräfte von dort. Jeden Abend habe er von der Kreuzberger Seite der Mauer Schafe blöken, Ziegen meckern, Esel schreien gehört - und all das Schlechte bestätigt gefühlt, was über die Deutschtürken in der Türkei gern erzählt wurde: "Unsere Landsleute, diese unzivilisierten Bauern, leben in Deutschland weiter wie auf ihrem Dorf!" Als die Mauer dann fiel, ging er die Dorftrottel suchen. Was er fand, war der Kreuzberger Kinderbauernhof.

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