Berliner Philharmonie: Wie von einem anderen Stern

Vor 50 Jahren wurde das wirklich einzige Bauwerk in Berlin auf Weltniveau eröffnet: die Philharmonie am Kulturforum.

Ein Jahrhundertbau wird 50: Die Philharmonie in Berlin. Bild: dpa

Beinahe wäre es mit der Philharmonie gut gegangen. Nach der Zerstörung des alten Konzertsaals 1944 durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs hatten Berlins Stadtobere 1949 für den Neubau ein Grundstück an der Bundesallee im Auge. Im Unterschied zur Lage im Tiergarten hätte die neue Philharmonie dort städtebaulich und architektonisch an den Genius Loci des Quartiers angedockt werden können. Ein Konzerthaus inmitten der urbanen, dichten, lebendigen Stadt - das wärs gewesen.

Es ist aber nicht gut gegangen für das expressive Bauwerk des Architekten Hans Scharoun. Nach dem Bauwettbewerb 1956, den Scharoun für sich entscheiden konnte, korrigierte der Senat 1959 die Idee für den Standort Bundesallee zugunsten des Grundstücks am heutigen Kulturforum.

Es gibt wunderbare Luftbilder vom Rohbau der Philharmonie 1962 und 1963: Am Horizont sind das Brandenburger Tor und die Berliner Mauer zu erkennen, die Ostberliner Ruinenlandschaft schält sich heraus. Davor ist im Tiergarten, auf der leeren abgeräumten Stadtwüste, ein architektonischer Meteorit, ein bauliches Alien von einem anderen Planeten gelandet, das so noch niemand gesehen hat: supermodern, asymmetrisch geformt, antiurban, autonom, "ein baulicher Fremdkörper", wie Berlins früherer Senatsbaudirektor Hans Stimmann die singuläre Kunstfigur einmal geißelte.

Am 15. Oktober 1963, heute vor 50 Jahren, eröffnete der "Zirkus Karajani", wie die Berliner Schnauze die zeltförmige Philharmonie in Anlehnung an ihren egozentrischen Maestro taufte. Seither gilt der avantgardistische Klangraum im Innern des Gebäudes sowohl als ein Kosmos in der Weltarchitektur auch auch als magischer, ja mythischer Ort für Komponisten, Musiker und Dirigenten. Scharoun hatte Orchester und Chor nicht frontal den Besuchern gegenüber platziert, sondern erstmals im Zentrum und am tiefsten Punkt eines Saals. Die 2.200 Plätze der Zuhörer gruppierte er darum herum in einer Art aufsteigender Landschaft aus Rängen und Galerien, sodass der Ton nach allen Seiten und in die Höhe ausschwärmen konnte.

Es gibt wenige Konzerthäuser mit ähnlich guter Akustik, gleichwohl die Form des Klangraums heute als Vorbild gilt: beim Leipziger Gewandhaus, bei der Philharmonie in Tokio oder bei der Casa da Musica in Porto.

Dennoch haben die Berliner mit der Philharmonie bis dato nicht ihren Frieden gemacht. Scharouns Meteorit wird angelastet, dass das ganze Kulturforum nicht funktioniert. Mit dem baulich-singulären Akzent dort sind mittlerweile ganze Generationen von Berliner Bausenatoren und Architekten nicht fertig geworden - und werden es nicht. "Es ist eine Planung, die all das missachtet, was wir als europäische Stadt kennen", kritisiert der Architekt Max Dudler die "Broschen" seines Kollegen Scharoun. "Hier gibt es keine durchgehende Textur aus Räumen, die von Plätzen und Gebäuden gebildet sind und urban genutzt werden können."

Zwar wurde dem goldgelb verkleideten Bauwerk die Neue Nationalgalerie, der Kammermusiksaal und die Gemäldegalerie zur Seite gestellt. Der Matthäikirchplatz, die Potsdamer Straße wurden verändert. Für die ungeliebte Stadtbrache, die lange im Schatten der Mauer lag, wurden Entwürfe und Pläne von Oswald Mathias Ungers bis Renzo Piano erarbeitet. Gerade hat der Architekt der Parlamentsbauten, Stefan Braunfels, eine neue Rettungsskizze vorgelegt. Wettbewerbe für weitere Gebäude und Plätze lobt Berlin nahezu jährlich aus. Weil das Entree einem Hintereingang gleicht, wurde der Eingang auf dem Reißbrett mehrmals in Richtung Potsdamer Straße umgebaut - ohne Erfolg. Die Philharmonie und die Stadt bleiben hier Fragmente.

Es gibt Stimmen, welche die Situation am Kulturforum weniger dramatisch sehen und für die Vollendung des Ortes im Sinne des Urhebers plädieren. Denn ebenso wie der Leitgedanke für die Klangarena, die Scharoun als "eine Landschaft zum Musizieren" bestehend aus Tälern, aufsteigenden Terrassen wie bei Weinbergen, mit Tribünen in Höhenlagen und einem Himmel darüber charakterisierte, entstand von ihm auch ein Masterplan für das gesamte Areal. Die "organische Stadtlandschaft" - zur Überwindung der Mietskasernenstadt und klobigen Nazi-Architektur gedacht - war bestückt mit futuristischen Kulturbauten, gemeinschaftlichen Architekturen, einem Künstlerhaus. Moderne Quartiere zogen sich im Masterplan bis in den Tiergarten hinein. Ein Kultur-Campus quasi wie eine Space-City und viel Grün sollten entstehen, die Nutzer sollten Ort und Raum genießen.

Es war Scharouns Idealbild vom "demokratischen Bauen". Schon darum sieht der Architekt Matthias Sauerbruch eine "Verpflichtung" für die Scharounsche Planung und ihre Geschichte und fordert, "den Gedanken zu respektieren und an dieser Stelle zu Ende zu bringen". Soll der alte Masterplan wieder her? Back to the roots?

Gott sei Dank hat die Philharmonie selbst sonst keine Probleme! Zwar sind vor Jahren Deckenteile über den Schallsegeln herabgestürzt, die Musiker wollten mal keine Frauen in der Kapelle, mal den Dirigenten nicht. Probenräume bröckelten, nach Dacharbeiten 2008 brannte es und das Haus musste fast ein Jahr schließen. Hätte man da nicht ein paar Piktogramme mehr installieren können? Die Himmelsleitern und Stege im Foyer hinauf zu den Eingängen gleichen noch immer Irrwegen ins Labyrinth.

Doch wenn man den eigentlichen Konzertsaal mit viel warmem Holz unter der Kuppel betritt, wird alles einfach. "Der Konzertsaal ist eine der bedeutendsten Raumschöpfungen des 20. Jahrhunderts", findet Sauerbruch. "Er ist symmetrisch und asymmetrisch zugleich." Drei ineinander verdrehte Fünfecke überlagern sich als Ränge ringsum, die Architektur wandelt sich ständig, und dennoch ergibt sich ein "in sich stimmig zusammenhängender Raum".

Herbert von Karajan, der sich von Beginn an für die Planung begeisterte, als andere noch diesen unkonventionellen Saal ablehnten, sah gleich, dass die akustische Besonderheit der Philharmonie sich aus der baulichen entwickelte. Das Orchester im "Zentrum des Raumes" könne "seine musikalischen Phrasen, seinen Atem, hier besonders lange und weiträumig ausschwingen". Damit hatte das frühere NSDAP-Mitglied zweifelsfrei recht. Den spezifischen Sound der Philharmonie kann man hören, ja spüren.

Beethoven und Berlioz, dazu die "Matthäus Passion" von Bach und Wolfgang Rihm hinterdrein - feiert man nun zum 50. Geburtstag mit solch todernster Musik diesen "demokratischsten" Klangraum unter den großen Konzerthäusern nicht unter Wert? Unbedingt hätten in das Programm der Festwochen vom 15. bis 20. Oktober Jazz, Rock, sogar HipHop oder die Geschichte der elektronischen Musik gehört, wie etwa die Komposition "Kraft" von Magnus Lindberg, das im Januar 2014 am Kulturforum aufgeführt wird.

Bei Lindberg klingt und kracht es, Tanks scheppern durch den Gehörgang, Punk röhrt, damit die Wände wackeln. Dafür hat Scharoun das Haus gebaut, und zum Jubiläum wäre das ein Spaß für die 50 Jahre alte denkmalgeschützte Philharmonie gewesen. Aber so weit wie in der Londoner Royal Albert Hall, wo The Who, Eric Clapton oder Elton John jeweils zu Feiern auf die Bühne durften, ist man in Berlin an der Herbert-von-Karajan-Straße 1 wohl noch lange nicht. Vielleicht klappt es ja zum 100. Geburtstag.

Tatata Taaaaaa!

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