Besuch bei Schriftstellerin Julia Jessen: Hommage an das Aufbrechen

Julia Jessen hat mit „Die Architektur des Knotens“ einen fulminanten Liebes- wie Trennungsroman geschrieben – weil beides nun mal zusammengehört.

Die Schriftstellerin Julia Jessen vor einer weißen Schrankwand mit Büchern.

Kopfmensch aus einer Kopffamilie: Die Schriftstellerin Julia Jessen Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Wenn Julia Jessen von ihrer Heldin und ihrem Helden erzählt, wenn sie noch einmal eintaucht in die Welt, die sie gut 730 Tage beschäftigt hat, in ihrer Küche, irgendwo im noch mäßig angesagten Hamburger Stadtteil Barmbek-Süd, schwankt sie zwischen Nähe und Distanz. Dann sagt sie Sätze wie: „Eigentlich kann ich gar nichts über das Buch sagen, ich bin da viel zu sehr drin.“ Um im nächsten Moment über ihre Helden zu sprechen, als seien sie enge Freunde, mindestens gute Nachbarn, die jederzeit neben ihr sitzen und ebenfalls ein Croissant essen könnten.

Man kann es sich leicht machen und ihren neuen Roman „Die Architektur des Knotens“ als klassisches Midlife-Crisis-Epos lesen: Yvonne und Jonas, beide noch gerade so in den 30ern; zwei Jungs, Mika und John; eine geräumige Wohnung, eine Treppe führt nach oben, es gibt ein großes Bett. Grundschullehrerin ist sie, er Physiotherapeut mit eigener Praxis, und das Geld stimmt.

Und dann beginnt die Frau eine Affäre, einfach so. Wobei – das ist schon etwas komplizierter und genauso auch nicht. Denn irgendwas ist los mit ihr, da brodelt etwas und gärt, da ist dieser tiefe Wunsch, etwas kaputtzuschlagen, einfach so. Nur warum? Es ist doch alles in Ordnung.

Fakt ist: Auf Seite 140 folgt Yvonne, angetrunken, aber Frau ihrer Sinne, einem jüngeren Mann, dem der Schriftzug „Day and Night“ den Arm verziert, dabei wollte er sich seinerzeit gar nicht tätowieren lassen. Wenig später weiß Jonas Bescheid, weil Yvonne ihm erzählt, was passiert ist. Er bleibt zurück, sie geht ins Hotel. Was soll nun geschehen? Yvonne hat keine Antwort, sie weiß keine Lösung. Sie weiß nur, dass es so ist, wie es ist.

Wie heikel eine solche Liebes­anordnung ist, welche Emotionen sie befeuert, erfährt Julia Jessen derzeit auf ihren Lesungen. „Mir wird dann fast vorgehalten, dass die beiden nicht miteinander reden; schnell fällt dann auch das Stichwort Paartherapie“, erzählt sie. „Eine Paartherapie, das maße ich mir mal jetzt an, hätte dem Paar nicht geholfen.“ Sie sagt: „Das Problem ist: Wenn man sich selbst innerhalb des Systems befindet, Teil davon ist, kommt man nur schwer aus dem System heraus, und sei es auch nur gedanklich.“

Da brodelt etwas, da ist dieser tiefe Wunsch, etwas kaputtzuschlagen, einfach so. Nur warum? Es ist doch alles in Ordnung

Dabei verweigert sich Julia Jessens Roman mit Verve jeder vorschnellen geschlechterpolitischen Zuordnung: „Zu sagen, jetzt können die Frauen auch mal gehen und nicht nur die Männer, ist überhaupt nicht mein Punkt“, sagt sie. Ihr geht es um die Erkundung einer tiefen Erschütterung, der, hat sie sich ereignet, nachgegangen werden muss: „Yvonne beschreitet einen Weg, von dem sie nicht weiß, wohin er führt und der keinen Beifall findet.“

Zugleich erzählt Jessen so kundig wie intuitiv von den täglichen Verwerfungen, von den rat- und hilflosen Reaktionen aus Yvonnes und Jonas Freundeswelt und wie sie zwischen Existenz und Alltag switcht, das sorgt auch für viel Humor bis Komik. Und sie erzählt: „Mir fällt gerade ein: Mein Ex-Mann hat einen Freund, von dem sich die Frau getrennt hatte, es war ganz dramatisch; und dann sind die beiden Männer zusammen mit anderen Freunden weggefahren, und als er wieder zu Hause war, habe ich natürlich gefragt: Und? Was hat er erzählt? Und er: Ach, wir sind da gar nicht dazu gekommen, darüber zu reden. Und wieder ich: Wie? Ihr seid nicht dazu gekommen? Das spricht man doch an!“ Und sie lacht herzhaft und macht erst mal einen Kaffee.

„Die Architektur des Knotens“ ist Julia Jessens zweiter Roman. Für ihr Debüt „Alles wird hell“ war sie für den Michael-Kühne-Preis nominiert, der beim Harbour-Front-Literaturfestival vergeben wurde. Sie kam über einen Umweg zum Schreiben: „Ich bin ein sehr großer Kopfmensch, komme aus einer schreibenden Kopffamilie und habe als junger Mensch gedacht: Das muss doch auch anders gehen; man kann doch das, was einen bewegt, auch anders sichtbar machen.“

Julia Jessen, „Die Architektur des Knotens“; Kunstmann, 432 Seiten, 24 Euro

Und so wird sie Schauspielerin; ist in Film und Fernsehen zu sehen, spielt Theater, gründet das Kurswerk als Stätte für Schauspielunterricht. Bis dann doch das Schreiben sich meldet, die Oberhand gewinnt und sie der Schauspielerei adé sagt, wobei sie ihrer Schauspielerinnenherkunft verbunden bleibt: „Ich habe Improvisation gelernt, und wenn ich eine Szene brauche, baue ich die nicht wie nach einem Bauplan aus, sondern gehe hinein – oft entsteht dann Dialog.“

Sie sagt: „Es geht mir in den Szenen nicht darum, etwas zu erklären, sondern etwas sichtbar zu machen.“ Und von hier aus sei es wiederum ein kurzer Weg zum Schauspielen: „Wenn ein Schauspieler seine Figur erklärt, ist das immer gruselig. Er sollte sie einfach handeln lassen.“

„Wir sind gehalten und auch gefangen“, sagt Jessen wie nebenher, setzt sich, mit einem Becher frischen Kaffees in der Hand. Und ist gedanklich wieder in der Durcheinander-Welt ihres Heldenpaares angekommen: „Es ist nie das Was, sondern das Wie. Also: Ich kann jemanden betrügen und es ist der Verrat, und ich kann mit einem anderen schlafen und es kann meine Ehe retten. Das weiß jeder für sich – die Sache an sich ist es nicht.“ Sie sagt mit fester Stimme: „Das soll mir niemand sagen, dass er das nicht kennt.“

6. Juni, 20 Uhr, Wortpicknick, Musikpavillon im Park Planten un Blomen, Hamburg

Ihr Buch ist auch eine Hommage an das Aufbrechen, an das Durcheinander und an die Chancen, die darin liegen. Denn auch Jonas, der überraschte, der ratlose, der vielleicht auch zunächst übertölpelte Mann, wird auf ganz eigene Weise herausfinden aus dieser Situation, für die er genauso wenig kann wie seine Frau, die nun nicht mehr seine Frau ist.

„Er muss seinen Stolz und seine Wut in den Griff kriegen und akzeptieren, er sieht ja auch ihre Not“, sagt Jessen. Die in ihrem neuen Buch auch die Frage stellt, was es denn mit dem Ideal der eindeutigen Liebe, der unbedingten Treue auf sich hat: „Ich höre dann oft: Ach, offene Beziehungen, das funktioniert doch nicht. Aber das andere funktioniert ja auch nicht“, lacht sie. Denn werden nicht am Ende die Hälfte aller Ehen geschieden? Und nicht sogar mehr als das?

Von der Macht des Chaos, der Offenheit, auch von der Kraft der Kunst erzählt zudem ihr Roman. Es geht zwischendurch nach Dänemark, auch nach Sylt. Ein Kind wird getauft, ein Paar heiratet, eine Beerdigung muss ausgerichtet werden; eine Galerie wird immer mal wieder betreten, wo ein Bild mit dem Titel „Eva hysterisch“ hängt: Eine Frau steht in einem Garten, drumherum Reste von Möbeln. Zu erwerben für den stolzen Preis von 3.900 Euro, unerschwinglich für eine Frau wie Yvonne, die nur bedingt bis gar nicht weiß, wie es weitergeht – wobei auch hier nicht das letzte Wort gesprochen ist.

Schreiben zwischen neun und 13 Uhr

„Ich muss mit der Zeit, die ich zum Schreiben habe, sehr sorgsam und diszipliniert umgehen, und ich schreibe, wann immer es geht, mal abgesehen davon, dass ich zwischendurch noch Geld verdienen muss“, wechselt Jessen erzählend in ihren Alltag, sie meint damit die Zeit zwischen kurz nach neun Uhr und kurz nach 13 Uhr.

Was nicht immer einfach sei: Ganz bei ihren Helden und genauso für ihre beiden Kinder da sein: „Manchmal springe ich auf, suche einen Zettel, suche einen Stift, und meine Kinder sagen dann: Mama muss nur noch einen Gedanken aufschreiben.“ Und dann geht das Familienleben wieder weiter. Also müsste sie eigentlich Kurzgeschichten schreiben, aus Effektivitätsgründen, aber so lässt sich das Schreiben nicht rechnen. Sie sagt: „Ein Roman ist eigentlich Irrsinn.“

„Ich hätte längst mit dem neuen Buch anfangen müssen“, sagt sie noch. Aber dann schaue sie sich dabei zu, wie sie abends auf dem Sofa sitzt und Netflix-Serien schaut. Auch weil sie weiß, das wird schon: „Ich mag es, Zeit zu schinden, weil wenn ich ins Schreiben einsteige – und ich werde einsteigen – dann bin ich wieder drin und komme die nächsten zwei Jahre nicht raus aus der Sache.“

Worum es inhaltlich gehen soll, muss naturgemäß offen bleiben. Auffällig ist nur, dass recht viele Magazine in ihrer Wohnung aufgeschlagen herumliegen, die sich historischen Epochen, Glaubensfragen und auch Religionsgeschichte widmen. Und Jessen erzählt: „Neulich hat meine Tochter in einer der Zeitschriften eine Jesus-Abbildung betrachtet, so sacht über das Papier gestreichelt und gesagt: ‚Armer, armer Jesus.‘“ Sie lacht und sagt: „Vielleicht sollte ich hier nicht so viele gekreuzigte Männer rumliegen lassen.“

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