Bildung in der Türkei: Evolutionstheorie ist islamisch

Die Türkei will die Evolutionstheorie aus dem Unterricht verbannen. Die Politiker in Ankara sollten einen Blick in die islamische Geschichte werfen.

ein Holzschnitt zeigt eine Moschee

Bagdad war ein wichtiges Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, Holzschnitt von ca. 1870 Foto: imago/Imagebroker

Als Hoca Tahsin Efendi Mitte des 19. Jahrhunderts nach Konstan­tinopel zurückkehrte, war er überzeugt: „Alle Arten verändern sich und unterliegen einer dauernden Evolution.“ Zwölf Jahre lang hatte der Naturwissenschaftler und Philosoph zuvor auf Geheiß des osmanischen Großwesirs Reşit Pascha in Europa studiert. Als Erster brachte er nun die gerade veröffentlichte Lehren Charles Darwins über die Entstehung des Lebens zurück in seine osmanische Heimat. Seine Wissbegierde zahlte sich aus: Im Jahr 1869 wurde Hoca Tahsin Efendi in Konstantinopel zum Direktor der ersten Universität des Osmanischen Reichs ernannt. Und bald schon war auch dank ihm die Evolutionstheorie Darwins nicht mehr aus den türkischen Lehrplänen wegzudenken.

Bis vor zwei Wochen. Da kündigte das türkische Bildungsministerium an, die Lehre von der Entstehung des Lebens via Vererbung, Mutation und Selektion aus dem schulischen Unterricht zu streichen. Es handle sich um eine „archaische Theorie“, die kaum belegt sei, hatte schon Anfang dieses Jahres der türkische Vizepremier Numan Kurtulmuş gewettert. Als „zu fragwürdig, zu kontrovers und zu kompliziert für Schüler“ bezeichnete sie nun ein Vertreter des türkischen Bildungsministeriums und kündigte an, ab dem Jahr 2019 den „eurozentrischen Unterricht“ durch die Lehren muslimischer und türkischer Wissenschaftler zu ersetzen.

Die Mächtigen in Ankara haben wohl selbst nicht gut aufgepasst in der Schule. Sonst wüssten sie, dass islamische Gelehrte über Jahrhunderte zu Erkenntnissen kamen, die den Lehren Darwins nicht unähnlich waren.

Systematik von Tierarten

Schon im 9. Jahrhundert und damit rund 1.000 Jahre vor „On the Origin of Species“ stellte der arabisch-afrikanische Lyriker und Lexikograf al-Dschāhiz in einer siebenbändigen Enzyklopädie eine Systematik von 350 verschiedene Tierarten auf. In seinem „Buch der Tiere“ umriss al-Dschāhiz nicht nur als einer der Ersten das Prinzip tierischer Nahrungsketten. Was Darwin beim Anblick von Schildkröten und Finken erkannte, fiel al-Dschāhiz bei der Beobachtung von Tauben, Hunden und Füchsen auf: Vertreter derselben Tierart, die an unterschiedlichen Orten leben, weisen oft große Unterschiede in ihrer äußeren Gestalt auf. Al-Dschā­hiz war überzeugt, das Leben befände sich in einem ständigen Entwicklungsprozess. Die Mechanismen dieser „Evolution“ waren schon bei ihm: Anpassung an die natürliche Umwelt und der Kampf ums Überleben.

Rund 100 Jahre nach al-­Dschā­hiz sorgte im heutigen Afghanistan der persische Universalgelehrte al-Biruni in vielerlei Hinsicht für Aufsehen: Als Mathematiker berechnete er den Erdumfang auf rund 40 Kilometer genau. Als Astronom stellte er das damals gängige heliozentrische Weltbild infrage. Und als Geologe kam er zu Erkenntnissen, die für spätere Auffassungen von Evolution maßgeblich sein sollten. Aus Untersuchung von Gesteinen und Fossilien schloss al-Biruni, dass die Entwicklung des Lebens schon lange vor dem Menschen eingesetzt haben und so langsam abgelaufen sein müsse, dass der Mensch diese nicht ohne Weiteres beobachten könne.

Platz auf Noahs Arche

Wie viele andere Gelehrte des „Goldenes Zeitalter des Islam“ richteten sich al-Dschāhiz und al-Biruni damit gegen die Vorstellung eines abgeschlossenen, zeitlich begrenzten Schöpfungs­akts. Ihm setzten sie die Idee der kontinuierlichen Entwicklung des Lebens entgegen. Das mag aus heutiger Sicht banal klingen aber zur Erinnerung: Im christlichen Europa bestand der „wissenschaftliche“ Konsens der damalige Zeit in der Bestätigung der biblischen Schöpfungsgeschichte, wonach die Artenvielfalt allenfalls durch den Platz auf Noahs Arche determiniert wurde.

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Eine These, mit der sich auch heutige Kreationisten – gleich ob christlich oder muslimisch – nicht anfreunden können, stellte im 13. Jahrhundert ein persischer Philosoph auf: die Verwandtschaft zwischen Mensch und Affen. In seinem Werk „Akhlaq-i Nasiri“ (Arbeit über die Ethik) ergründet Nasir al-Din al-Tusi die moralische, wirtschaftliche und politische Dimension des Menschen. In Anlehnung an die antike Vorstellung von einer stufenartigen Rangordnung des Lebens, ging auch al-Tusi von einer kontinuierlichen Entwicklung des Lebens aus: von den kleinsten Bausteinen der Welt bis hin zur spirituellen Perfektion des Menschen. Seine Erkenntnisse kulminieren unter anderem in diesem Satz: „All diese Fakten belegen, dass das menschliche Wesen auf die mittlere Stufe der evolutionären Treppe gesetzt wurde. Seiner ihm innewohnenden Natur zufolge, ist der Mensch verbunden mit niederen Wesen und nur mit der Hilfe seines Willen kann er ein höhere Entwicklungsstufe erreichen.“

Wiederum rund 100 Jahre später erblickte ein Mann die Welt, der bis heute als Superstar islamischer Gelehrsamkeit gilt: Der nordafrikanische Philosoph Ibn Khaldun war überzeugt, dass sich der Mensch „aus der Welt der Affen“ entwickelt habe. In seinem 1377 fertiggestellten Hauptwerk „Die Muqaddimah“ (Einleitung) ordnet er die menschliche Existenz in eine kontinuierliche Entwicklung des Lebens ein, ein „stufenweiser Prozess der Schöpfung führte schließlich zum Menschen, der zu denken und zu reflektieren vermag.“

Ibn Khalduns Gedanken in Europa

Auch in Europa blieben die islamischen Theorien über die Entstehung des Lebens nicht unbekannt. Noch 1874 schrieb der britische Naturwissenschaftler John William Draper in seinem Werk „History of the Conflict between Religion and Science“ von einer „Mohammedanischen Theorie der Evolution“, nach der sich „der Mensch von niederen Formen … zu seinem heutigen Zustand im langen Zeitverlauf“ entwickelt habe. Gemeint hatte Draper wahrscheinlich die Lehre Ibn Khalduns.

15 Jahre zuvor hatte Charles Darwin sein „On the Origin of Species“ veröffentlicht, das gemeinsam mit den Vererbungslehre Gregor Mendels bis heute unsere Vorstellung von der Entwicklung des Lebens prägt. Es wäre irreführend, die empirisch akribische Arbeit dieser beiden Naturwissenschaftler mit den eher philosophischen Evolu­tions­lehren islamischer Denker gleichzusetzen.

Doch es waren es islamische „Aufklärer“ wie Ibn Khaldun und viele andere, die Europa aus seiner religiös-mittelalterlichen Lethargie hinein in die wissenschaftsfreundliche Neuzeit verhalfen. Ob in Philosophie, Medizin, Mathematik oder eben auch Biologie: Europäische Denker bedienten sich ausgiebig am Wissensschatz der mittelalterlichen islamischen Welt, die wiederum vom antiken Erbe Europas profitierten. Und noch etwas vereint die Geschichte der Evolutionstheorie diesseits wie jenseits des Bosporus: Wissenschaft und Philosophie konnten immer nur in dem Maße erblühen, wie die jeweiligen politischen und geistlichen Herrscher dies zuließen. Politiker, die dieses gemeinsame Erbe leugnen, um ungeliebte wissenschaftliche Erkenntnisse zu stigmatisieren, stehen deshalb eher in der Tradition des religiös-bornierten Mittelalters Europas als des wissenschaftsfreundlichen Mittelalters der islamischen Welt. Der osmanische Großwesir Reşit Pascha hatte das vor rund 150 Jahren zum Glück erkannt. Seinen Nachfolgern in der heutigen Türkei wäre dies auch zu wünschen.

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