Bildungskosten in Chile: Pauken auf Pump

Claudio und Nuri Rodriguez aus Santiago haben drei Kinder, die alle eine gute Ausbildung wollen. Ein echtes Armutsrisiko, selbst in der Mittelklasse.

Ein heißes Thema für die Präsidentschaftswahl: Studenten bei Protesten gegen das Bildungsystem in Chile im Oktober 2013. Bild: dpa

SANTIAGO DE CHILE taz | Claudio Rodriguez biegt von der Avenida in die kleine Seitenstraße. Der Wagen fährt an den hohen Zäunen entlang. Dahinter die flachen Häuser mit Grünstreifen zwischen Hauswand und Zaun. Vor einem der Häuser rollt er aus. Auf dem Vorplatz spielt die kleine Emilia. Sombra, der Hund, begrüßt sein Herrchen. Vor zehn Jahre sind Claudio und Nuri mit ihren Töchtern Camila und Milena hierhergezogen. Die Beziehungen zu den Nachbarn sind gut. Man kennt sich. Als Emilia vor vier Jahren zur Welt kam, haben sie ausgebaut. Jede der drei Töchter hat nun ihr eigenes Zimmer.

La Florida beherbergt überwiegend die Mittelklasse. Hier, im Süden der chilenischen Hauptstadt Santiago, leben mehr als 300.000 Menschen. Vor 20 Jahren gab es noch überwiegend Acker- und Grasland. Anfang der 1970er Jahre wurde die erste große Siedlung gebaut. Das war der Startschuss. Und seit vor sechs Jahren die Metro bis nach La Florida verlängert wurde, sind sie hier direkt mit dem Stadtzentrum verbunden.

Trotz dieser positiven Entwicklung bestimmt eines der wichtigsten Probleme des Landes auch das Leben der kleinen Familie: die Bildungsreform. Sie dürfte zu einem der dominierenden Themen der Präsidentschaftswahl vom kommenden Wochenende werden. Die anderen beiden wichtigen Themen sind die Steuerreform und die Änderung der Verfassung.

Seit 2011 protestieren Chiles Studenten. Die aussichtsreiche Kandidatin des Mitte-links-Bündnisses, Neue Mehrheit, die Sozialistin Michelle Bachelet, hat ihnen einiges versprochen. So sollen beispielsweise nach einer Übergangsfrist von sechs Jahren kostenlose Studiengänge von den Universitäten angeboten werden. Skepsis ist jedoch angebracht. Michelle Bachelet hat in ihrer ersten Amtszeit von 2006 bis 2010 keine grundlegenden Veränderungen durchgesetzt.

Camilas monatliches Studiengeld von 400 Dollar

In der Familie aus La Florida studiert Camila – mit 26 Jahren die Älteste – Englisch und Pädagogik an der Universität Playa Ancha in San Felipe, rund 100 Kilometer nördlich von Santiago. Sie kommt nur noch am Wochenende nach Hause. Milena, gerade 15 geworden, besucht das katholische Colegio Santa Cruz im Zentrum der Hauptstadt. Die kleine Emilia geht in den Kindergarten.

Camilas monatliches Studiengeld von 400 Dollar finanzierte die Familie zunächst zu 100 Prozent über einen Kredit. „Jedes Semester muss die Bedürftigkeit nachgewiesen werden, muss der Kredit neu beantragt werden“, sagt Nuri. Da Camilla aus Nuris erster Partnerschaft stammt, lebt sie ohne väterliche Unterstützung bei der alleinerziehenden Mutter. „Jede Familie muss schummeln, um an eine finanzielle Unterstützung zu kommen.“

Für dieses Semester wurden dennoch nur 95 Prozent als Kredit bewilligt. Seit März müssen sie 20 Dollar pro Monat zuschießen. Dazu kommt die jährliche Matrikelgebühr von 300 Dollar, Ausgaben für Lehrmaterial, Kleidung, Essen und Unterkunft. „Das alles deckt der Kredit nicht ab“, sagt Nuri.

Die in der chilenischen Verfassung des Landes garantierte Freiheit der Lehre steht über dem Recht auf Bildung.

Da hat sich der Präsident verquatscht

„Bildung ist ein Konsumgut“: Dieser Satz schlüpfte dem chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera auf dem Höhepunkt der Studentenproteste 2011 aus dem Mund. Damals gingen Chiles Studierende auf die Straßen und forderten erstmals ein kostenloses Universitätsstudium.

Bildung gilt vielen Chilenen wie selbstverständlich als private Angelegenheit. Demnach muss sich der Einzelne oder seine Familie um die Finanzierung kümmern. Auch Claudio hatte das Prinzip lange verinnerlicht. Seine Generation ging für niedrigere Zinssätze auf die Straße.

Auch das Haus, in dem sie leben, haben sie mit einem Kredit gekauft. Die Laufzeit beträgt 20 Jahre. „Wir zahlen 7,5 UF pro Monat“, sagt Claudio. Chilenen wissen, wovon er redet. Der Verrechnungsmodus ist eine chilenische Besonderheit. Ende der 1960er Jahre wurde die Unidad de Fomento eingeführt. Die UF ist Währungseinheit, mit der der Peso an die Inflationsrate gekoppelt ist. Kredite werden zwar in Peso getilgt, aber Basis ist die UF. Alle Kredite laufen auf dieser Grundlage. So bleibt die Tilgung in UF-Einheiten konstant, aber der Wert in Peso ist variabel.

Tilgen, tilgen, tilgen

Wie jeder Chilene hat Claudio also Erfahrung mit Krediten. Er selbst hat 1991 mit dem Studium an der Katholischen Universität in Santiago de Chile angefangen. 40 Prozent der monatlichen Studiengebühr musste er selbst bezahlen, für 60 Prozent gab ihm die Uni einen Kredit. Fünf Jahre studierte er Sozialarbeit. Als er nach dem Abschluss einen Job gefunden hatte, begann er mit der monatliche Tilgung seiner Kreditschulden. „Entweder du legst den ganzen Batzen auf den Tisch oder du zahlst zwölf Jahre lang monatlich 5 Prozent von deinem Einkommen.“ Für Claudio waren das monatlich 100 Dollar.

2011 waren die zwölf Jahre um, der Kredit aber noch immer nicht ganz zurückgezahlt. „Nach zwölf Jahren ist Schluss, den Rest schenkt dir der Staat.“ Klingt gut. Doch Claudio hat nachgerechnet. Mit den Zinsen und der ständig an die Inflation angepassten Kreditsumme hat er mehr als das Doppelte zurückgezahlt, was er während der Studienzeit bekommen hat. Und selbst das hat nicht gereicht. Am Ende musste der Staat den Rest übernehmen.

Für ein Recht auf Bildung ging auch Camila 2011 auf die Straße. Als Schülerin hatte sie schon 2006 die monatelangen Proteste an den Schulen miterlebt. Damals ging es noch um bessere Ausstattungen der Schulen und um günstige Fahrkarten. Fünf Jahre später fanden sich viele der damals protestierenden an den Universitäten wieder. Sie hatten dazugelernt und forderten die universitäre Ausbildung als staatlich garantiertes und kostenfreies Grundrecht ein.

22 Prozent ihres Einkommens für die Bildung ihrer Kinder

Nach Angaben der OECD geben chilenische Eltern durchschnittlich 22 Prozent ihres Einkommens für die Bildung ihrer Kinder aus. Mehr als doppelt so viel wie in den USA und ein Vielfaches von dem, was europäische Eltern zahlen.

Chiles Schulen teilen sich in drei Klassen. Da sind die Privatschulen, bei denen die Eltern die gesamten Kosten tragen, die teilsubventionierten Schulen, die sich über einen Mix von privaten und öffentlichen Geldern finanzieren, und Schulen, die komplett von den öffentlichen Zuwendungen abhängig sind.

Nuri und Claudio haben für die 15-jährige Milena den Mittelweg gewählt. „Heute versucht jede Familie, ihre Kinder zumindest in den teilsubventionierten Schulen unterzubringen.“ Das Colegio Santa Cruz im Zentrum der Hauptstadt ist zwar katholisch, hat aber einen ausgezeichneten Ruf und einen guten Mix von Schülern aus den unterschiedlichsten Stadtvierteln von Santiago, sagt Claudio. Dafür zahlt die Familie monatlich 120 Dollar, der Staat schießt 80 Dollar dazu.

2011 war Milenas Schule zweimal besetzt. Sie selbst war nicht dabei, aber sie geht noch immer auf jede Demonstration. Heute hat die Mobilisierung nachgelassen. Aus ihrer Klasse sind sie zu dritt. Um am Protesttag zu fehlen, braucht sie die Einwilligung der Schule und der Eltern. Wer nicht demonstriert, hat Unterricht.

Wenn Claudio morgens aus dem Haus geht, dann steuert er den ersten seiner drei Honorarjobs an. Als Berater ist er bei der Gewerkschaft der Metroangestellten tätig. Danach geht er zu seinem Arbeitsplatz im Instituto de Ciencias Alejandro Lipschutz und abends gibt er Unterricht an der Universität. Damit kommt er auf rund 1.600 Dollar im Monat. Nuri verdient zwar weniger, hat aber eine Festanstellung. Als Leiterin eines kommunalen Zentrums für Kinderrechte verdient sie knapp 1.200 Dollar. Und weil das Zentrum über einen eigenen Kindergarten verfügt, in den die kleine Emilia geht, spart sich die Familie diese Kosten. Monatlich verfügt die Familie über ein Einkommen von 2.800 Dollar.

Davon geht die monatliche Rate fürs Haus von 350 Dollar ab. Die Nebenkosten für Strom, Wasser und Telefon machen rund 380 Dollar aus. Das ständige Hin- und Herfahren zwischen den Arbeitsplätzen und der Wohnung kostet 220 Dollar an Benzin. Und damit Emilia nach dem Kindergarten nicht allein zu Hause ist, leistet sich die Familie eine Betreuungs- und Haushaltshilfe für 300 Dollar. So sind schon mal 1.250 Dollar weg. „Vom Einkommen her sind wir Mittelklasse“, sagt Nuri. „Aber wenn einer von uns seinen Job verliert, sind wir unterhalb der Armutsgrenze.“

Die OP kann sich Claudio momentan nicht leisten

Claudio müsste sich eigentlich an der Schilddrüse operieren lassen. Doch die Krankenkasse übernimmt nur die Grundversorgung. Der Eingriff kostet 3.000 Dollar, hat ihm sein Arzt vorgerechnet. Dafür müsste er einen Kredit aufnehmen. Seit einem Jahr schiebt er die Entscheidung vor sich her. „Noch belästigt mich die Schilddrüse nicht so sehr.“

Nach der Schule will Milena studieren. In Sachen Finanzierung hat sie sich schon mal schlau gemacht. Wer Kinesiologie studieren will, muss pro Monat 700 Dollar zusammenbringen. In vier Jahren wäre es so weit. Dann wird auch Emilia eingeschult. Claudio hat deshalb auch schon mal vorgerechnet. Sollte sich auch unter einer zukünftigen Präsidentin Bachelet nichts wesentlichen ändern, „dann müssen wir 500 Dollar mehr stemmen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.