Biologie auf oder unter dem Meer: „Für uns im Dunkeln verborgen“

Als Kind wollte Antje Boetius Piratin werden. Heute erforscht sie die Tiefsee - die sich mit dem Klimwandel extrem schnell ändert.

Antje Boetius in der Arktis

Antje Boetius bei der Arbeit in der Arktis nördlich von Grönland Foto: AWI Polarstern

taz: Frau Boetius, wie entdeckten Sie Ihr Interesse an Meeresbiologie?

Antje Boetius: Als Kind war ich eine Leseratte. Ich las lauter Abenteuerromane. Da stellte ich mir vor: Pirat als Beruf, das muss das Beste sein. Aber ich habe schnell begriffen, dass als Mädchen das Piratinnen-Sein nicht sonderlich perspektivenreich ist.

Da kamen Sie auf Meeresbiologin?

Genau. Es gab damals Dokumentarfilme von Hans und Lotte Hass. Lotte war darin nicht nur Begleitwerk, sondern sie schwamm auch mit den Haien und machte Experimente. Dadurch habe ich mir eingebildet: „Das ist ein ganz normaler Frauen-Beruf, das kann ich auch werden.“

Kartografie ist ja sehr unromantisch ...

Finden Sie?

Sie nicht?

Überhaupt nicht. Ich glaube das kommt auch vom Romane-Lesen, wie „Die Schatzinsel“. Karten spielen beim Entdecken immer eine Riesenrolle. Karten bilden unseren Stand des Wissens um einen Raum ab und haben immer irgendwo weiße Flecken. An die will ich immer ran und die bunt malen. Das verändert auch das Gesamtbild des Ozeans, die Höhen und Tiefen genau zu kennen. Und die Arbeit an Karten, das Ausmessen vom Meeresboden, ist daher etwas ganz Tolles.

48, ist Tiefseeforscherin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie Bremen und am Alfred-Wegener-Institut Bremerhaven sowie Professorin für Geomikrobiologie an der Universität Bremen. Sie hat als Leiterin und Forscherin an über 40 Expeditionen teilgenommen.

Zusammen mit ihrem Vater Henning Boetius veröffentlichte sie 2011 das Buch „Das dunkle Paradies“.

Was begeistert Sie daran?

Ein riesiger Teil der Erde liegt für uns Menschen verborgen im Dunkeln. 4.000 Meter unter dem Meeresspiegel – die Durchschnittstiefe der Ozeane – gibt es unglaublich vielfältiges Leben, unbekannte Lebensräume. Da sind wir wirklich Entdecker. Meine Expedition 2016 geht zu einem riesigen Seeberg in der zentralen Arktis. Das ist ein kaum vermessener, toter Vulkan, der von über 5.000 Metern Wassertiefe auf 500 Meter aufsteigt. Das ist ein tolles Gefühl, da mit den Schiffloten drüberzufahren und auf einmal sieht man das Bild dieses gigantischen Berges unter sich.

Und wenn Sie untertauchen?

Die größte Freude an der Beobachtung in der Tiefsee ist, wenn man mit dem Roboter oder dem U-Boot selber in diesen dunklen Raum kann. In der Dämmerzone, unterhalb von 200 Metern, ist es zu dunkel für Fotosynthese. Aber die Tiere machen alle Signale mit Licht. In dieser Welt ist die Tiefsee wirklich zauberhaft funkelnd. Und weiter unten wird es dann noch dunkler und fast ganz leer. Doch auch hier gibt es gelatinöse Quallen und viele Tintenfische, die nahezu transparent sind. Andere sind ganz bunt, und es ist toll zu sehen, wie sie sich bewegen.

Dient Ihre Forschung auch dem Schutz der Tiefsee?

Ja, wobei mich diese Idee stört, dass wir dauernd beweisen müssen, wie zweckreich und angewandt unsere Forschung für die Gesellschaft ist. Die meisten Menschen haben doch auch grundlegende Fragen daran, wie die Welt funktioniert. Das merke ich auch bei öffentlichen Vorträgen. Ich werde nicht gefragt: „Wozu ist Ihre Forschung gut?“, sondern: „Was gibt es da unten noch zu entdecken?“

Welche Fragen sind für Sie zentral?

Wie lebt es sich in der Tiefsee? Wieso ist das Leben dort so, wie wir es vorfinden? Ich sehe Tiefseelebewesen an und frage mich: „Wieso sind sie genau da? Was fressen sie? Wo kommt die Energie her?“ Das sind Grundfragen nach dem Ursprung und der Entwicklung des Lebens. Die wir bis heute nicht beantwortet haben.

Sie leisten auch viel Öffentlichkeitsarbeit.

Ja, das hat mit einfachen Anfragen von Medien angefangen. Als das mehr wurde, habe ich mich gefragt, ob das so gut ist. Also ob ich an Glaubwürdigkeit verliere, wenn ich so oft zu sehen bin. Ob andere Wissenschaftler dann vielleicht denken, dass ich zu sehr verallgemeinere. Ich habe dann aber festgestellt: Das ist nicht so. Sondern das wird geschätzt.

Was gefällt Ihnen da am besten?

Ich finde konkret das Arbeiten mit Kindern am tollsten. Sie stellen Fragen so völlig anders und es entstehen unverbrauchte Diskussionen. Zum Beispiel über schön und hässlich bei Tiefseetieren.

Profitiert auch Ihre Wissenschaft davon?

Schon. Wenn man immer wieder sein Forschungsthema der Öffentlichkeit präsentiert, muss es verständlich sein. Dafür überlegt man sich noch einmal die ganz einfachen Sätze und Fragen. Manchmal merkt man dabei auch selbst, dass man etwas noch nicht ganz verstanden hat. Und manchmal gibt es auch tolle neue Fragen, auf die man selber gar nicht kommt, weil man sich schon so lange mit dem Thema beschäftigt hat.

2009 erhielten Sie den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis. Sie fragten bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach, um sicherzugehen, dass tatsächlich Sie den Preis bekommen.

Stimmt.

Es wurde dann berichtet, dass das typisch für Frauen sei. Wie schätzen Sie das ein?

Vielleicht ist das tatsächlich so, dass man als Frau eher fragt: „Hä? Wirklich ich?“ Aber inzwischen habe ich geübt und viele Preise erhalten. Beim Leibniz-Preis ist auch vielleicht jeder erst einmal geschockt. Da sind Männer, die diesen Preis erhalten, auch von beeindruckt.

Wie kam es, dass Sie mit Ihrem Vater zusammen ein Buch geschrieben haben?

Das weiß ich auch nicht. Mein Vater hatte den Einfall, ein Buch über die Tiefsee zu schreiben, ich hatte aber einfach keine Zeit. Er hat dann eine Art Minifluch ausgesprochen: Du wirst es Dein Leben lang bereuen, wenn Du das nicht machst. Denn wenn ich tot bin, wirst Du immer daran denken, dass Du das nicht gemacht hast. Ich fand dann, dass er eigentlich Recht hat. Aber ich habe den Zeitaufwand völlig unterschätzt. Es ist ein dickes Buch geworden. Das war auch eine Qual, weil ich mir jedes bisschen Freizeit abgequetscht habe für zwei Jahre.

Ihr Vater ist Schriftsteller, wie war das, mit ihm zu arbeiten?

Das war interessant, weil er ganz anders schreibt, als ein Wissenschaftler. Ich konnte viel von ihm lernen, er kann toll formulieren und Dinge mit sehr lebendiger Sprache erklären. Ich schreibe selber unheimlich gerne in Teams, in der Wissenschaft ist das auch so üblich. Man lernt unglaublich viel von den Anmerkungen der Anderen. So habe ich das beim Buch-Schreiben auch erlebt.

War das schwierig, mit dem Vater ein Buch zu schreiben?

Das Schreiben war nicht das Schwierige. Hinterher fand ich es schwierig, mit ihm Öffentlichkeitsarbeit zu machen.

Wie kam das?

Die Medien haben uns in feste Rollen gezwängt, das war schade. Und mein Vater ist es gewohnt, die Aufmerksamkeit für sich zu haben.

Wie prägte Ihre Familiengeschichte Ihren beruflichen Werdegang?

Mein Großvater war Kapitän und dadurch gab es immer dieses Gefühl: Ein Teil der Familiengeschichte ist Seefahrt. Mit seinen Geschichten vermittelte er mir dieses Gefühl der Männerwelt auf Schiffen und auf See, das war sehr faszinierend für mich; wie nervenstark die waren, wie wenig Angst die vor Stürmen hatten. Er ist auch drei Mal untergegangen und konnte mir toll erzählen, wie man so etwas überlebt.

Und mütterlicherseits?

Meine Mutter war alleinerziehend. So wie ihre Mutter und deren Mutter durch die Kriege hindurch auch. Das war sehr prägend, mit so starken Frauen aufzuwachsen. Auch dadurch bin ich als Mädchen mit dem Gefühl groß geworden: Es geht alles. Hauptsache, man weiß was man will und tut was.

Sie sind nicht nur in der Forschung, Sie betätigen sich auch in Gremien zur Förderung und Vermittlung von Wissenschaft.

Stimmt, die Gremienarbeiten wurden immer mehr. Ich habe mir überlegt, was ich damit mache. Nun lebe ich eben in dieser Zeit, in der Gremien versuchen, Minderheitenprobleme zu lösen. Vor allem Gender. Am Anfang war ich oft noch eine Frau unter vielen Männern. Das hat sich völlig verändert in den letzten sieben Jahren. Ich konnte eben ein Teil dieser Veränderung sein und habe mir gedacht, dann mache ich da einfach mal mit. Die Wissenschaft habe ich auch nicht vernachlässigt. Ich bin immer noch zur See gefahren und habe unheimlich viel Neues gelernt.

Sie konnten 2012 in der Arktis feststellen, wie Klimawandel die Tiefsee beeinflusst.

Genau. Wir waren während der größten Eisschmelze aller Zeiten dort. An der Unterseite der Eisschollen wachsen Eisalgen. Wenn das Eis schmilzt, regnen sie herab in die Tiefsee. Wir konnten also zeigen, dass man eine Veränderung an der Oberfläche direkt in der Tiefsee sehen kann. Die Tiefsee ist kein heiliger, geschützter Raum. Was wir mit der Erde anstellen, zeigt sich sofort unten. Das ist ziemlich neu, das hat man vor zehn Jahren noch nicht so gedacht.

Ist es nicht verwunderlich, dass man vor zehn Jahren etwas anderes angenommen hat?

Eigentlich nicht. Die Tiefsee ist schwer zu beobachten, weil sie so weit weg ist und so tief. Und sie hat immer die gleiche Temperatur, scheint langsam und unveränderlich. Inzwischen betrachten wir die Gesamtbeziehungen: Ändert sich die Temperatur oben, verändert sich das Plankton. Das beeinflusst die Nahrungsnetze und dadurch verändert sich, was absinkt. Mich berührt besonders, dass wir so langsam sind mit der Wissenschaft. Wir schaffen es nicht einmal, die Arktis zu dokumentieren, wie sie vor dem schnellen Meereisrückgang war.

Warum ist das so wichtig?

Später fehlen die Proben, die Bilder und die Daten und wir wissen dann gar nicht, wie wir wieder zurückkommen zu dem Zustand, der uns Menschen vielleicht lieber war.

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