„Blinde Geister“ von Lina Schwenk: Doch Sprechen war unmöglich
Über drei Generationen hinweg: Lina Schwenk erzählt in ihrem Debütroman feinfühlig von den Ängsten, die sich in Frauenkörper einschreiben.
Es ist ein schmales Buch, doch darin entfaltet sich ein ganzes Frauenleben. Wie Lina Schwenk dies in ihrem Debüt „Blinde Geister“ erzählerisch gelingt, ist beeindruckend. Die 1988 geborene Autorin gelangte damit auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und ist für den Alfred-Döblin-Preis 2025 nominiert.
Schwenk widmet den Roman ihrer Mutter. Diese gehört jener Generation an, die nicht lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Die Spuren des Kriegs sind noch überall sicht- und spürbar. Die eigenen Eltern sind dabei, mittendrin gewesen. In Städten oder auf dem Land, an der Front.
Olivia heißt Schwenks Ich-Erzählerin, sie ist Jahrgang 1956. Es ist ihr Leben, das die Autorin hier verdichtet auf knapp 190 Seiten entblättert. Von den Prägungen durch die Eltern erzählt sie, vom Trauma des Vaters Karl und wie dieses Trauma schließlich weitergegeben wird an die Töchter, an die folgende Generation also, und wie es noch darüber hinaus wirkt.
Immer wieder gibt es diese „Tage, an denen sich die Stille ausbreitet, als schwiege das ganze Land. Als hielten die Menschen inne, angespannt, voller Angst. Dieses Warten auf etwas kann ich nicht ertragen, das konnte ich noch nie, früher schon nicht, wenn Karl bewegungslos im Wohnzimmer saß (…) regungslos vor dem Radio“, offenbart die Erzählerin mit Anfang zwanzig.
Lina Schwenk: „Blinde Geister“. C. H. Beck, München 2025. 190 Seiten, 24 Euro
Und die Leser*innen wissen bereits, dass „früher“, in der Kindheit, die Familie für einen Tag oder eine Woche in den Keller stieg. Ohne Tageslicht, Konservennahrung, dicht beieinander, die Mutter Rita liest den Töchtern Märchen vor, der Vater hängt am Radio. Ihn lässt die Angst nicht los. Die hat er mitgebracht vom Einsatz in Russland. Mehr erfährt man darüber nicht, denn mehr erfährt auch Olivia nicht. Ihre Fragen stoßen auf Schweigen. Seine Angst verinnerlicht sie.
Ambivalentes Zugehörigkeitsgefühl
Schwenk erzählt chronologisch, zugleich episodenhaft, denn sie überspringt zwischen den Kapiteln große Zeitspannen. Sie arbeitet mit einer Verdichtung, die nichts Wesentliches weglässt, sondern genau darauf abzielt. In einzelnen, intensiven Szenen stecken die Details, welche die ganze Zerrissenheit des Kindes, der jungen Erwachsenen, der verliebten Frau, der Mutter einer Tochter, der Mittfünfzigerin, der Rentnerin entfalten. Diese nie aufzulösende Ambivalenz, in der sich Angst und Geborgenheit verbinden.
Denn die Tage im Keller sind auch Momente der Zusammengehörigkeit. Eine Überwindung der grundlegenden Fremdheit, die Olivia schon früh seismografisch vom Vater übernommen hat; eine Aufhebung des Gefühls der Ausgeschlossenheit, das die Eltern als eine undurchdringliche Einheit den Töchtern gegenüber vermitteln.
Verknüpft mit ihrer Angst ist daher auch Olivias Ringen, Distanz und Nähe in ein lebbares Verhältnis zu bringen. „Im Bett berühren wir uns nicht“, heißt es während eines Konflikts mit ihrem Mann Paul, da ist sie Mitte fünfzig. „Dabei habe ich das mit ihm über die Jahre mühsam gelernt, das nicht zu starke An-mich-Drücken, das nicht zu starke Weghalten. Wir leben schon so lange in einer fast normalen Nähe zueinander.“
Die Körperlichkeit durchzieht den Text. In den Körper haben sich die Ängste eingeschrieben, wenn Olivia in Gegenwart der Mutter so starr wird, wie Paul bemerkt. Aber er spendet auch Trost, Beistand. Immer wieder berühren sich Hände. Immer wieder taucht das Bild zweier sich aneinander schmiegender Körper auf, Karl und Rita, Olivia und Paul.
Großer Schmerz, feinfühlig erzählt
Und in einem der intensivsten Kapitel des Buchs legt sich die über sechzigjährige Olivia, die Krankenschwester geworden ist, zu einem alten Patienten, der stirbt: „Und dann atme ich, so lange ich kann, die gleiche letzte Luft wie er, meine Wange fest auf seiner Brust. Ich kann nicht anders, ich weiß, dass es falsch ist, aber für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und stelle mir vor, es wäre Karl.“
Schwenk lässt in diesen wenigen Sätzen Olivias ganzen Schmerz aufscheinen. Der sich nicht auflösen kann, sich erneuert hat angesichts des Todes von Karl, der gemeinsam mit Rita gestorben ist.
Die Autorin schreibt nicht als einzige über das Thema transgenerationale Traumata. Doch hat sie einen so besonderen, klugen und feinfühligen Zugang gefunden. Ein schöner erzählerischer Einfall ist es auch, in Prolog und Epilog der Sicht Karls und Ritas Raum zu geben.
Schwenks Hauptaugenmerk liegt auf Olivia, doch gelingt es ihr, auf wenigen Seiten Eigenschaften der Eltern zu erhellen, die der Tochter verborgen bleiben mussten. Davon zu wissen, hätte vielleicht etwas Linderung verschafft, doch Sprechen war unmöglich. Auch von diesem Schweigen handelt Lina Schwenks wunderbares Debüt.
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