Blitzbesuch in Kanadas größter Stadt: Toronto per Pedale

Ein 24-Stunden-Stopover mit Reiseführer in einer Weltmetropole. Wie viel von Kanadas größter Stadt geht an einem Tag?

Die Skyline von Toronto. Bild: Photocase/tigerente

Die Dame im Flugzeug verdreht die Augen: „Mit dem Fahrrad wollen Sie Toronto kennenlernen? Passen Sie um Gottes willen auf, das ist gefährlich!“ Kanadas größte Stadt ein chaotischer Moloch à la Kalkutta oder Bangalore? Ich werde sehen.

„Wenn du das Rad über Nacht auf der Queen Street West stehen lässt, dann ist es definitiv weg.“ Der Besitzer des Fahrradverleihs am Queen’s Quay West blickt ernst drein, als er das betagte Mountainbike einhändig am Sattel gepackt herbeibalanciert. „Egal, wo du das Rad anschließt, nimm immer den Sattel mit!“

Mit dem ersten Tritt in die Pedale läuft der Countdown. Eine Verlängerung wird es nicht geben – das Flugzeug hebt in knapp 30 Stunden gen Heimat ab. Die Queen’s Quay ist mäßig befahren. Ich kreuze die Yonge Street, die am Fähr-Terminal anfängt. Es soll die mit 1.896 Kilometern „längste Straße der Welt“ sein, zumindest das Guinnessbuch der Rekorde und auch die freundliche Frau im Touristenbüro behaupten das.

Hinter der Hochtrasse Gardiner Express Ways liegt der berühmte Fresstempel St. Laurence Market in der Old Town. Der Ort soll einst ein Umschlagplatz der Indianer gewesen sein. In der dann irgendwann eröffneten Backstein-Markthalle wird neben allerlei Kulinarischem – Snacks aus der Ukraine, Italien, England – bei der „Carousel Bakery“ auch das „world famous Peameal Bacon Sandwich“ angeboten. Für 5 Dollar plus Tax (macht 5,99) bekomme ich fünf aufeinandergepappte Schinkenscheiben umhüllt von labbrigen Brötchenhälften. Eine trockene Weltdelikatesse.

Ein Muss: viktorianische Schnapsbrennerei

Es ist 15.45 Uhr. Eine Sehenswürdigkeit ist geschafft. Die Front Street führt mich zum Destillery District. Ein Muss, heißt es im Reiseführer doch, „die besterhaltene viktorianische Industriearchitektur in Nordamerika“. Auf fünf Hektar wurde einst die größte Schnapsbrennerei der Welt betrieben. Ganz ohne Kohlehydrate kommt kein Fahrradpilot aus. Das hausgemachte Schokoladeneis vom „Soma Chocolate Maker“ in dem mittlerweile reanimierten Distrikt schmeckt vorzüglich, und es hilft beim Runterkommen: Anstelle schleckend zu radeln, bleibt ein ruhiger Moment zur Inaugenscheinnahme der aufgehübschten 44 Gebäude, die heute Boutiquen und Galerien beherbergen. Der Pförtner ruft mir aus seinem Kabuff nach: „Bis halb sieben hat die Hockey Hall of Fame geöffnet.“

Ich weiß, was ich zu tun habe. Es ist fünf nach fünf. Denn ein Toronto-Trip ist unvollständig, huldigt man nicht Kanadas Nationalsport Eishockey in dessen Ruhmeshalle. Wie Gleichgesinnten, denn jetzt schwitze ich, rolle ich den Statuen an der Ecke von Yonge und Front Street entgegen. In eingefrorenen Posen halten die fünf ihre Schläger. Ich übergebe ihrer Obhut meinen Drahtesel. An einem so heiligen Ort wird ihm schon nichts passieren. Aber um exakt 17.19 Uhr hat das museale Eishockey-Mekka hat geschlossen – seit 19 Minuten.

Die geilste Aufzug-Fahrt

So ist Zeit gewonnen – Zeit zum Shoppen. Endlich geht es ein Stück die „längste Straße der Welt“ entlang. zum „Eaton Center“. Eine Stunde später brummt der Kopf: Im Eaton Center kann man, kurz gesagt, alles kaufen. Gekauft habe ich nichts. Kapitulation.

Draußen neigt sich die Sonne. Höchste Zeit, ihr auf dem CN Tower in schwindelerregender Höhe noch ein paar mehr Minuten abzutrotzen. 1,8 Kilometer in der Horizontalen sind in nur sieben Minuten zurückgelegt. Dann geht’s in nur 61 Sekunden auf 346 Meter Höhe. Laut National Geographic die „geilste Aufzug-Fahrt der Welt“. Doch welche Enttäuschung: meine Stoppuhr zeigt, oben angekommen, eine Fahrtdauer von über zwei Minuten. „Wir mussten das Tempo wegen des Sturms ein bisschen drosseln“, informiert das Begleitpersonal.

Seafood als Vorspeise, Ente als Hauptspeise, der Shiraz aus Südafrika – alles schmeckt so, wie der Kellner letztlich daherkommt: mehr Schein als Sein. Doch die Aussicht vom insgesamt 553 Meter hohen und damit einst höchsten freistehenden Gebäudes der Erde ist eine adäquate Würze. Während der Ontario-See in tiefes Schwarz abgleitet, fangen die Straßenschluchten an zu glimmen.

Mit Pedalen unter den Füßen fühle ich mich trotz des Regens wieder wohler. Die Reifen rollen den nassen Asphalt entlang – 20 Minuten Regen, 3,1 Kilometer die Queens Street West entlang. Um auch ihm eine sichere Nacht zu gönnen, gebe ich den Drahtesel an der Rezeption ab.

Teil 2 des Parcours

Der Wecker klingelt um halb neun. Cappuccino und Burrito schmecken im Café des Gladstone Hotels, der letzten verbliebenen Herberge aus der Eisenbahnära Torontos. Die Gegend West Queen West wird seit einigen Jahren wiederbelebt und gilt als hip – man wähnt sich im „Art & Design District“. Ich fühle mich frisch und mittendrin und bereit für Teil 2 des Toronto-Parcours.

Noch frischer wird’s auf dem Rad. Der Wind hat nicht nachgelassen. Eine Anzeige macht es amtlich: 11 Grad. Nicht wenige Straßen haben Fahrradspuren: etwa die Spandida oder die College, auf der reger Zweiradbetrieb Richtung Zentrum herrscht. Mein Routenplan verordnet den Weg durch Little Portugal und Chinatown zum Bata-Schuhmuseum – fünf Kilometer Frühsport. Danach zeigt die Uhr zehn.

Das Museum hat geöffnet. Es zieht in den Bann, die Menschheitsgeschichte in der Evolution des Schuhwerks gespiegelt zu sehen – von Ötzis Rehhaut-Latschen bis zu Roger Federers Tennis-Schluffen.

12 Uhr, Kensington Market. Der Stadtteil darf in keinem Reiseführer „als buntester Stadtteil“ fehlen. Es riecht wie tausend und ein Räucherstäbchen, der Prozentsatz der Passanten mit Dreadlocks ist erhöht, muffige Designer-Klamotten sind die Spezialität der Second-Hand-Läden. Einst war Kensington Market das Wohnviertel jüdischer Einwanderer, hinzu kamen Immigranten von überall. Heute ist es Hort der „alternativen Szene“.

In meiner Vorstellung läutet jemand mit der weißen Flagge die letzte Runde ein: die Toronto Islands! Um halb drei nehme ich nach 3,5 Kilometern Fahrt die Fähre.

Auf dem untersten Deck sind Fahrradständer montiert, was von einer gewissen Frequenz der Radler zeugt. Sollte Toronto sich gar als fahrradfreundlich herausstellen? Auf Centre Island ist die Ruhe nach der Stadt. Die Skyline liegt in sicherer Entfernung majestätisch da. Autos sind verpönt. Der Drahtesel blüht auf und findet fast allein den Weg – vorbei an einem alten Vergnügungspark mit Streichelzoo, um schließlich auf der langen Holzpromenade nach Wards Island die Weite des Ontario-Sees zu erfassen.

Finales Wadentraining auf Toronto Islands

Im Jahr 1858 machte der Lake Ontario die Inseln überhaupt erst zu solchen. Bei einer Sturmflut riss er die Landbrücke ein. Mein finales Wadentraining auf den Toronto Islands hat sich gewaschen. In knapp einer Stunde sind neun Kilometer und alle Hauptwege geschafft. Während die Segelyachten noch im seichten Wasser glucksen, nehme ich die Fähre von der Westinsel namens Hanlan’s Point, die Torontos Stadtflughafen beherbergt. Es riecht nach Kerosin.

Ich denke an den Heimflug. Ein bisschen überzogen habe ich, als ich das Mountainbike aushändige. Es ist 15.30 Uhr. 24,5 Stunden sind vergangen, 30,6 Kilometer gefahren, je nach Einschätzung rund zehn Sehenswürdigkeiten geschafft. Und eine Freundschaft wurde geschlossen – die zu Toronto.

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