Böser Pop von U.S. Girls: „Ich weiß, ich kann‘s verkacken“

Meghan Remy alias U.S. Girls hat mit „Half Free“ ein spannendes Pop-Album veröffentlicht. Ein Gespräch über kaputte Familien, Freiheit und queeren Gesang.

Meg Remy U. S. Girls

Mag es nicht seicht und unterhaltsam: Meg Remy Foto: Foto: 4AD/Promo

Hinter dem Namen U.S. Girls verbirgt sich eigentlich nur ein einziges U.S. Girl: Meghan Remy heißt die Solokünstlerin, die mit ihrem aktuellen Album „Half Free“ auf Europatournee ist. Ihr Sound erinnert mal an 60er-Beatmusik, die in zu langsamer Geschwindigkeit abgespielt wird, mal an Nico mit Drumcomputer und mal an krachigen LoFi-Rock. Dazu trägt Remy, Jahrgang 1985, mit hohem, klaren Gesang bitterböse Texte über kaputte Familien oder über den Afghanistan-Krieg und die Biografien der dort eingesetzten US-Soldaten (“Damn That Valley“) vor. Die taz interviewte Meg Remy telefonisch, als sie auf Tour in Göteborg Station machte.

taz: Meg Remy, Sie singen in Ihren Songs viel über das „Böse“, das in unseren Familienleben angelegt ist. Müssen wir nach dem „Bösen“ wieder mehr im Privaten suchen als im großen Ganzen?

Meg Remy: Ich denke schon. Die „großen“ Dinge betreffen ja auch unsere individuellen Leben. Wir leben etwa in einem System, das darüber bestimmt, was wir mit unserer Zeit tun, wie wir über uns selbst denken und das die Beziehungen zu den Leuten um uns herum beeinflusst. Mit großen Systemen lassen sich kleinere Phänomene immer erklären, man nehme zum Beispiel Drogen- oder Medikamentenmissbrauch. Das große Bild ist auch das kleine Bild.

Im ersten Song Ihres neuen Albums geht es um eine Ehefrau, die feststellt, dass ihr Mann bereits mit all ihren Schwestern ein Verhältnis hatte. Sie singen: „And now I’m gonna hang myself/ hang myself from my family tree“. Puh.

Ich dachte, das wäre ein guter Weg, um zu beginnen. Ich will die Leute überraschen. Sie sollen direkt darauf vorbereitet sein, dass sie kein leichtes oder unterhaltsames Album hören. Es nimmt einen emotional mit.

„Innerhalb dieses Systems gibt es keine Hoffnung. Dieses System ist komplett hoffnungslos. Es ist so offensichtlich kaputt, es funktioniert nicht für den Großteil der Menschen“

Wenn man die ersten Töne hört, klingt alles erst mal ganz harmlos – und dann ist es wie in einem David-Lynch-Film: Oh, es ist alles ganz anders, als es scheint.

Das ist klassisch amerikanisch: Nach außen wirkt alles schön, strahlend und neu, und wenn man in die Häuser hineinschaut, dann schlägt der Mann die Frau, und die Kinder ritzen sich in die Arme in ihren Schlafzimmern auf. Ich kenne diese Geschichten sehr gut. Mein Weg ist es, immer wieder mit Leuten darüber zu sprechen, sodass man der Wahrheit näher kommt.

Sie sind nun kanadische Staatsbürgerin. Das Album ist aber noch sehr „amerikanisch“ mit allen Träumen und Albträumen. Würden Sie das auch so sehen?

Ja, sicher. Meine Perspektive ist die einer weißen amerikanischen Frau. Ich lebe jetzt seit fünf Jahren in Kanada, aber ich würde nicht sagen, dass mich das grundsätzlich verändert hat. Die Americaness bleibt ja in mir. Das ist eines der Dinge, die mich ausmachen. Das Album schildert definitiv amerikanische Szenen, aber diese Szenen sind vielleicht auch universell für alle westlichen Gesellschaften. Und viele Themen, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen etwa, sind universell menschlich – die Geschichte, dass ein Mann mit allen weiblichen Geschwistern einer Familie geschlafen hat, könnte direkt aus der Bibel stammen. Das ist eine sehr alte Vorstellung.

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, heißt der berühmte erste Tolstoi-Satz aus „Anna Karenina“. Mit Ihnen könnte man sagen: Es gibt keine glücklichen Familien.

Live:

29.10. Berlin, Monarch

30.10. King Georg, Köln

Die perfekte Familie gibt es nicht. Du kannst keine Kinder haben, ohne ihr Leben in gewisser Weise vorzuzeichnen. Alle unsere Neurosen und Verhaltensmuster kommen in großem Maße von unseren Eltern; egal wie wohlmeinend sie waren. Manchmal sind sie ja auch zu wohlmeinend, man kann seine Kinder ja auch zu stark lieben.

Haben Sie selbst Kinder – oder wollen Sie welche haben?

Ich habe keine Kinder, aber ich will definitiv welche. Ich gehe in diese Situation mit dem Wissen, es in irgendeiner Art und Weise zu verkacken. (lacht) Ich bin bereit dafür. Es ist ja auch etwas sehr Schönes, Kinder zu haben. Es ist eine komplett einzigartige Erfahrung, sehr heftig, auch beängstigend. Und so verdammt viel Verantwortung.

Der Titel Ihres Albums ist „Half Free“. Sind Sie „half free“ als eine Frau, als Bürgerin eines liberalen Landes, als Musikerin – oder als alles von jenem?

Es kann viele Bedeutungen haben. Ich lasse das offen, für was immer einem in den Sinn kommt bei dem Titel. Ich will keine Antwort geben. Alle Dinge, die Sie gesagt haben, treffen zu.

Es geht um Ambivalenzen?

Ja, einfach im Menschsein in diesem Zeitalter, im Verheiratetsein, im Musikerinnendasein, im Allessein ...

Ich las, dass Sie eine sehr weite Definition von Feminismus haben. Für Sie ist Feminismus nicht bloß die Gleichstellung und -behandlung von Frauen. Richtig?

Nein, für mich ist es die Gleichheit aller Personen. Es betrifft jeden. Ich denke Feminismus sogar so, dass er auch Bereiche wie den Umweltschutz betrifft, genauso wie Ernährung und so etwas. Ich glaube, man sollte alle diese Dinge wichtig nehmen, wenn man sich Feministin nennt. Und Männer müssen da mitbestimmen können. Männer sind es schließlich auch, die gerade in der Machtposition sind – wenn wir nicht mit ihnen reden, dann wird nichts passieren.

In einem Sample auf dem Album, das ein Telefongespräch wiedergibt, ist davon die Rede, dass Männer immer noch faschistische Diktatoren werden können, wenn sie gestört sind, aber Frauen im gleichen Fall als Personen ohne Selbstwertgefühl zurückbleiben.

Ja. Ist doch so. Männer sind es nun mal auch meist, die das Töten auf der Welt erledigen. Männer wachsen mit Ballerspielen in der Schule und ebensolchen Filmen im Kino auf. Es ist sehr selten, dass Frauen diese gewalttätigen Dinge tun. Unsere Neurosen manifestieren sich in anderen Dingen, wie kein Selbstbewusstsein zu haben, Essstörungen und psychische Krankheiten und manchmal auch Kindesmissbrauch.

Gibt es Auswege?

Ich habe natürlich keine Lösungen, aber es ist immer hilfreich, über solche Themen zu sprechen und sie zu thematisieren. Deshalb bin ich Künstlerin geworden. Aber die Welt ist an einem Punkt, wo die Probleme so gewaltig erscheinen, so alt sind und sich überlagern, dass ich nicht weiß ... es ist ein bisschen wie bei einem Drogenabhängigen: Du bekommst erst Hilfe oder nimmst sie erst an, wenn du am tiefsten Tiefpunkt angelangt bist. Bis dahin hast du immer wieder Rückfälle. Die Welt muss wohl erst an diesem tiefsten Tiefpunkt ankommen, was bedeutet, dass Millionen und Abermillionen Menschen an Krieg, Katastrophen, durch Verhungern oder Verdursten sterben müssen.

Gibt es gar keine Hoffnung?

Hoffnung ist individuell. Etwas, das den Einzelnen betrifft. Ich mag das Leben; ich finde es spannend, und ich liebe die Menschen, die um mich herum sind, ich lerne, mich selbst zu lieben – also habe ich Hoffnung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Hoffnung hätte, wenn ich ein syrischer Flüchtling wäre. Vielleicht hätte man sie, weil man aus dem Kriegsgebiet herauskommt und sich eine bessere Zukunft wünscht.

Gibt es politische Hoffnung?

Innerhalb dieses Systems gibt es keine Hoffnung. Dieses System ist komplett hoffnungslos. Es ist so offensichtlich kaputt, es funktioniert nicht für den Großteil der Menschen, und es ist komplett falsch. Aber es ist fast unmöglich, jetzt umzukehren.

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Musik und Kunst?

Im Grunde ist es nur das Verlangen, mich auszudrücken. Ich bin in irgendeiner Form aktiv, und wenn es nur ist, um mich selbst besser zu fühlen. Ich bin froh, Interviews wie dieses geben zu können, bei meinen Konzerten mit Leuten über die Dinge zu sprechen, die mich bewegen. Sonst wären meine Songs nur Selbstgespräche.

Als ich Sie das erste Mal live spielen sah, da war das krachiger, noisiger Sound. Nun gibt es deutlich mehr Pop-, Soul-, Beateinfluss. Wie kam das?

Ich kam nach Toronto, begann Musik mit meinem Mann zu machen und mit einigen Leuten, die um ihn herum waren. Die haben mich unterstützt. Ich war zuvor Teil der Noiseszene, damals war mein musikalischer Level noch nicht so hoch. Ich hatte große Ziele, war aber nicht in der Lage, sie zu erreichen, bis ich Leute traf, die mir zum Beispiel verrückte Drumbeats programmieren konnten. Ich habe mich selbst weiterentwickelt, gleichzeitig hat sich meine Stimme weiterentwickelt. Heute singe ich auch mal in höherer Stimmlage, manchmal klingt meine Stimme queer. Von der Komposition her hat sich seit meinem ersten Album vielleicht gar nicht so viel verändert, nur ist es eben handwerklich besser. Die Kompositionen waren im Prinzip immer Minimal Music mit Gesang.

Was bedeutet das Singen für Sie?

Vor Leuten zu stehen und zu singen ist eine große Herausforderung für mich. Es ist schon gut, dass ich das eine so lange Zeit mache und meine Unsicherheit überwunden habe. Ich habe vielleicht nicht die allerbeste Stimme, aber ich fühle, dass ich etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Und das tue ich.

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