Bremer Experte über Schnitger-Orgeln: „Sie funktionieren auch bei Null Akustik“

Der Bremer Organist Harald Vogel über das Besondere an den Orgeln Arp Schnitgers.

„Gott allein die Ehre“: An der Schnitger-Orgel in Hamburg-Neuenfelde Foto: Miguel Ferraz

taz: Herr Vogel, gibt es den typischen barocken Schnitger-Klang?

Harald Vogel: Nein. Es gab zu Arp Schnitgers Zeit ein allgemein akzeptiertes Klangideal. Das bestand einerseits in einem recht gewaltigen Gesamtklang. Andererseits ahmte man einzelne Streich- und Blasinstrumente nach. Denn Orgeln ersetzten ja Instrumentalensembles, die sonst im Gottesdienst spielten. Und Gemeinden, die sich keine Instrumentalisten leisten konnten oder wollten, ließen jetzt alles von einem einzigen Musiker spielen – dem Organisten.

Schnitger hat kein einziges klangliches Alleinstellungsmerkmal?

Eher indirekt, und das betrifft vor allem das Volumen. Denn ab Mitte des 17. Jahrhunderts spielte die Orgel nicht mehr nur solo, sondern begleitete auch den Gemeindegesang. Dafür war der Orgelklang der vorhergehenden Renaissance und des Frühbarock aber zu leise. Für die Gesangsbegleitung brauchte man einen stärkeren Klang, und dafür hat Schnitger als einer der Ersten ein Konzept entwickelt.

Wie hat er das gemacht?

Er hat die hohen Töne schärfer und „schneidender“ gemacht, damit man die Melodie gut heraushörte. Auch die Bässe hat er besonders kräftig gestaltet. Zudem sind Schnitgers Orgeln klanglich autonom.

Was heißt das?

Schnitger-Orgeln funktionieren auch bei Null Akustik. Dass hängt damit zusammen, dass Schnitger hier in Norddeutschland viele Orgeln für kleine Dorfkirchen baute, die praktisch keine Akustik haben. Das lag daran, dass man seit dem 17. Jahrhundert viele Holz-Emporen einbaute, um immer mehr Menschen in den Kirchen unterzubringen. Das Holz schluckte den Klang. Deshalb hat Schnitger eine Klangveredelung eingebaut, die normalerweise erst durch die Kirchenakustik zustande kommt.

66, Organist und Professor an der Hochschule für Künste Bremen, ist einer der führenden Interpreten norddeutscher Orgelmusik und ein Pionier der historischen Aufführungspraxis. Er war maßgeblich an der Wiederentdeckung der Schnitger-Orgeln beteiligt und setzt sich für die Bewerbung für das Weltkulturerbe ein.

Das hat keiner der Zeitgenossen geschafft?

Sie haben es versucht, ohne dieses hohe Niveau zu erreichten. Schnitger hat die Produktion so organisiert, dass seine Orgeln trotz hoher Stückzahlen ein durchgehendes Top-Niveau erreichten. Andere Orgelbauer erreichten dieses Niveau nur, wenn die Bedingungen gut waren.

Was machte Schnitger besser?

Er hatte eine intelligente arbeitsteilige Werkstatt-Organisation. In der Hamburger Werkstatt, die er lange betrieb, wurden die wichtigsten Teile gefertigt. Zentrale feine Teile wie die Windladen, auf denen die Pfeifen stehen, die Pfeifen, die Klaviaturen fertigten hoch qualifizierte Mitarbeiter in der Werkstatt. Die großen Tischlerarbeiten an den Gehäusen, Schnitzereien und Eisenteile wurden oft von örtlichen Handwerkern hergestellt.

War Schnitger der einzige arbeitsteilige Orgelbauer seiner Zeit?

In diesem Umfang schon. Die meisten Konkurrenten haben ihre Werkstatt da eingerichtet, wo sie die Orgel bauten, und alles vor Ort gefertigt.

Das mindert nicht zwangsläufig die Qualität.

Nein, aber Schnitger hatte einen Stamm von Mitarbeitern, die das teils jahrzehntelang machten. Außerdem hatte er in Hamburg Zugang zu den besten Materialien. Das Eichenholz für die inneren Orgelteile etwa, das nicht reißen durfte, war in Hamburg gut zu bekommen. Denn dieses Holz, das sieben Jahre gewässert und dann viele Jahre getrocknet wurde, verwandte man auch für den Schiffbau. Es war das beständigste Eichenholz, das es gab. Andere Orgelbauer konnten nur das normale Eichenholz der jeweiligen Umgebung verwenden.

Die anderen Orgelbauer hatten keine guten eigenen Mitarbeiter?

Doch – wobei diese Leute ja samt Familien mit zu den jeweiligen Arbeitsorten ziehen mussten. Insgesamt hatten Schnitgers „Mitbewerber“ aber einen höheren Anteil an lokal angeheuerten Nicht-Werkstattangehörigen.

Grundlegend anders organisiert war Schnitger also nicht. Es geht um Nuancen.

Ja. Aber diese Nuancen waren der Grund, warum er kontinuierlich höchste Qualität lieferte. Bei anderen Orgelbauern gab es immer wieder Klagen über Mängel. Bei Schnitger nie. Das sprach sich herum. Deshalb hatte er von den späten 1680ern bis 1710 im norddeutschen Küstengebiet praktisch ein Monopol.

Wie hat er das hinbekommen?

Er war geschäftlich sehr clever und hat für den Landesherrn auch mal eine Orgel zum Selbstkostenpreis gebaut. Dem Hauptpastor der Hamburger Jacobi-Kirche schenkte er 1690 die luxuriöse Orgel, die heute noch in Deyelsdorf im westlichen Vorpommern steht. Heute würden wir das Bestechung nennen.

Aber er hat auch winzigen Gemeinden Orgeln geschenkt.

Ja, und zwar seinem Geburtsort Golzwarden sowie umliegenden Gemeinden wie Strückhausen und Ganderkesee. Das war einerseits Ausdruck seines Wohlstands. Andererseits tat er es aus einer gewissen Nostalgie heraus – als Dank dafür, dass der Tischlersohn Schnitger in seiner Heimatgegend so gefördert worden war.

War er das?

Ja. Er ist in Ovelgönne bei Golzwarden auf die Lateinschule gegangen, die auch höhere Beamte und Offiziere besuchten. Dort hat er eine umfassende humanistische Bildung erhalten. Er verstand später Latein, Niederländisch, Französisch, besaß eine große Bibliothek und konnte mit Pastoren und Landesherren auf Augenhöhe diskutieren.

War sein Erfolg sein Verdienst?

Nicht nur. Er wurde auch zum richtigen Zeitpunkt geboren. Sein Ruhm als selbstständiger Orgelbauer begann Anfang der 1680er-Jahre – während des Wirtschaftsbooms nach dem 30-jährigen Krieg. Durch den Westfälischen Frieden war abgesteckt, wer wo etwas zu sagen hatte, es war eine Zeit der politischen Stabilität. Es entstand Wohlstand, und die Gemeinden investierten in Kirchenausstattungen – und Schnitger-Orgeln.

Die bis heute weltweit nachgebaut werden.

Ja. Neben einigen wenigen in Norddeutschland gibt es Orgelnachbauten in Italien, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Portugal, Schweden, Finnland, Norwegen, den USA, Japan, Korea, Australien.

Warum bauen alle Schnitger nach?

Erstens bringt eine Schnitger-Orgel ein Maximum an Klang auf einem Minimum an Platz unter – wobei das nicht seine Erfindung war. Konkret geht die Konstruktion der Nachbauten in die Breite und Höhe statt in die Tiefe, sodass man wenig Grundfläche braucht. Auch in moderne Kirchen, Konzertsäle und Aulen kann man also platzsparend eine sehr große Orgel bauen.

Werden Schnitger-Orgeln auch wegen ihrer Langlebigkeit kopiert?

Ja. Dass die Instrumente nach über 300 Jahren noch einwandfrei funktionieren, liegt auch an der nachhaltigen Technologie. Selbst das feuchte Klima der Marschen hält eine Schnitger-Orgel normalerweise aus. Diese Nachhaltigkeit ist im Orgelbau vor circa 60 Jahren erkannt worden – ganz gegen den Trend der Zeit.

Inwiefern?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man auch im Orgelbau neue Technologien implementiert und zum Beispiel elektrische Datenübertragungswege benutzt. Aber die elektrischen Kontakte korrodierten oft in der feuchten Kirchenatmosphäre; manchmal gab es dann keine Ersatzteile mehr. Irgendwann haben die Gemeinden gesagt: Wenn wir uns alle 30, 40 Jahre eine neue Orgel kaufen, ist das teurer, als wenn wir eine Orgel anschaffen, die 300 Jahre hält – wie vor fünf Jahren in Worpswede.

Sie möchten, dass Schnitgers Orgeln Welterbe werden – auch weil er so europäisch arbeitete. War er der Einzige?

In dem Umfang ja. Es gab zwar auch andere Orgelbauer, die mal ein kleineres Instrument exportierten, wenn ein Schiff nach Südamerika fuhr und auf den Kanaren Halt machte. Deshalb gibt es auf den kanarischen Inseln 15 bis 20 Hamburger Orgeln des frühen 18. bis mittleren 19. Jahrhunderts. Aber das waren eher Beiprodukte. Schnitger dagegen hat sogar in katholische Länder wie Spanien und Portugal geliefert.

Warum ist das so bemerkenswert?

Weil es damals grenzwertig war, für eine katholische Kirche einen protestantischen Orgelbauer zu beauftragen. Deshalb hat Schnitger zum Beispiel keine Orgeln im katholischen Westfalen gebaut. Wohl aber in den calvinistischen Niederlanden, vor allem in den nördlichen Provinzen. Dabei standen sich Lutheraner und Calvinisten genauso feindselig gegenüber wie Lutheraner und Katholiken. Aber Schnitger war eben eine weit über die Region ausstrahlende Erscheinung und ist heute noch globaler geworden. Seine Art, Orgeln zu bauen, wird in Projekten weltweit wieder belebt und als Fertigkeit kultiviert. Das ist schon einzigartig.

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