Buch über Diktatur in Brasilien: Der Aufruhr der Zeit

„Alles in diesem Buch ist erfunden, doch fast alles ist geschehen“: Bernardo Kucinski erzählt von der brasilianischen Militärdiktatur.

Bulle zückt Waffe: Bodenkampf zwischen Student und Polizist in Rio de Janeiro, 1968. Bild: ullstein bild

K. sucht seine verschwundene Tochter. Ana ist ihm das liebste seiner Kinder. Versunken in seine Jiddisch-Studien entgehen ihm gewisse Signale. Ana führt neben ihrem Leben als Chemie-Dozentin noch ein anderes, ein zweites Leben: sie und ihr Mann Wilson kämpfen in der von Carlos Marighela geleiteten Stadtguerilla Acción Libertadora Nacional (ALN) gegen die brasilianische Militärdiktatur.

„Alles in diesem Buch ist erfunden, doch fast alles ist geschehen“ – dieses dem Roman vorangestellte Motto könnte ein Wink des Autors sein: meine Fiktion, liebe Leserin, lieber Leser, ist nur ein Wimpernschlag von den realen Personen und Ereignissen entfernt, aber sie erlaubt mir, von Gefühlen zu berichten.

Wir begleiten K. auf seiner Suche nach der entführten und ermordeten Tochter. Wir erfahren von Hoffnung und Enttäuschung, Tapferkeit und Müdigkeit, Illusion und Trauer, Schlaftabletten und Handlungszwang. Wir tauchen ein ins Innere der brasilianischen Militärdiktatur – wenn man so will das Pilotprojekt, dem weitere US-amerikanisch gestützte Diktaturen in so gut wie allen süd- und mittelamerikanischen Ländern folgen sollten.

Bernardo Kucinski: „K. oder Die verschwundene Tochter". Aus dem Brasilianischen von Sarita Brandt. Transit Buchverlag, Berlin 2013, 144 Seiten, 16,80 Euro

„Scheiße, Mineirinho, weißt du, wer Kissinger ist? Er ist der Typ, der den ganzen Plan ausgeheckt hat. Dieser Amerikaner, helles Köpfchen.“ Fleury, der berüchtigte Chef der Departamento de Ordem Política e Social (DOPS), einer von der Militärdiktatur gegründeten Geheimpolizei, erklärt seinen Chargen fürs Grobe, was es mit diesem Befehl aus Washington auf sich hat, Ana und ihren Mann Wilson freizulassen. Das American Jewish Commitee macht Druck. Aber die beiden sind tot, ihre Leichen zerlegt und entsorgt. Waren es nicht die Amerikaner, die auf Diskretion insistierten?

Zivilrechte außer Kraft gesetzt

Im Jahr 1964 putscht die brasilianische Armee gegen die gewählte Links-Regierung von João Goulart. Zehn Jahre nach Ende des Koreakriegs war die heiße Phase des Kalten Kriegs in Lateinamerika angekommen. Vier Jahre später dann der Putsch im Putsch. Mit dem institutionellen Dekret Nummer fünf wird die bleierne Phase der Diktatur eingeleitet. Die letzten Zivilrechte werden außer Kraft gesetzt.

Es sollten mehr als 20 Jahre vergehen, bis Brasilien zur Demokratie zurückkehrt. An jenen bleiernen Jahren, in denen Folter, Mord und Entführungen zur brasilianischen Normalität werden, arbeitet sich der Autor Bernardo Kucinski, im wirklichen Leben der Bruder von Ana, ab. Der Journalist Kucinski, der Berater des Expräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva war, hat Jahrzehnte gebraucht, bis er darüber schreiben konnte. Sein Buch ist auch ein therapeutischer Bericht.

Der Leser begleitet K. auf seinem langen Weg der Suche und Ungewissheit, während er zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt, sich Schuldgefühlen aussetzt. Wie konnte einer wie er, polnischer Jude mit eigener Geschichte im jüdischen Widerstand, „die Augen verschließen vor dem Aufruhr der neuen Zeit“? Die Schuldgefühle, die geliebte Tochter nicht vom verhängnisvollen Weg abgebracht zu haben, lassen ihn nicht mehr los. Beim Apotheker in der Nachbarschaft, in São Paulos jüdisch geprägtem Viertel Bom Retiro, beginnt die Erkundung.

Verstohlene Blicke

Ängstlich, aber mit der Arglosigkeit des Anfängers will er Anas Kolleginnen im Chemischen Institut der Universität von São Paulo befragen, nur im Freien wollen sie mit ihm sprechen. Verstohlene Blicke gehen unter den Frauen hin und her. Zum ersten Mal spürt er, was im Lauf der Ermittlung zur Gewissheit werden wird: die Mauern aus Angst und Schweigen, Lüge und Opportunismus, Kollaboration und Einschüchterung, in denen er sich verlieren sollte.

Der Institutsrat hat ihre Dozentin, in vorauseilendem Gehorsam, wegen Nichterscheinens am Arbeitsplatz gekündigt. Ein Verwaltungsakt, den die Universität, Wahrheitskommission hin oder her, bis zum heutigen Tag nicht revidiert. K. lässt sich ein auf die bezahlten Dienste von Polizeispitzeln, die ihn einem Wechselbad von Desinformation aussetzen. Er, dessen kulturelle Heimat sein geliebtes Jiddisch ist, betritt zum ersten Mal in seinem Leben eine katholische Kirche. Ein mutiger Erzbischof, Dom Paulo Evaristo Arns, hatte eine Hilfsaktion für „Familienangehörige verschwundener politischer Oppositioneller“ in Gang gesetzt.

Stundenlang hört er die Berichte anderer Angehöriger, Menschen aus allen Bevölkerungsschichten. Eine junge Frau stellt sich vor – als seine Schwägerin. Seine Tochter, verheiratet? In der Illegalität? Soll er den Schwiegersohn, den er nie kennenlernen konnte und nie kennenlernen wird, hassen oder achten? Er sucht Hilfe beim Roten Kreuz in der Schweiz, bei Amnesty International in London, bei der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten und beim American Jewish Commitee in New York. Erfolglos.

Jesuinas Therapiestunde

Viele Akteure kommen zu Wort. Wir tauchen ein in Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Kucinski leuchtet ein komplexes Thema aus – dies gelingt ihm mit narrativem Facettenreichtum in sanfter bis schriller Vielstimmigkeit und schroffen Perspektivwechseln. Hier ist eine fiktive Wahrheitskommission am Werk. Wir lesen Anas Brief an die Freundin mit all den Zweifeln über ihren Weg und ihre Bitterkeit über die Indolenz der Uni-Kollegen: „Alle tun so, als ob das Leben normal weitergeht, alle benehmen sich so, als ob sich nichts ereignete.“ Wie widersprüchlich, wie menschlich das Bild, das der Autor von seiner Schwester zeichnet!

Und dann hat der Leser noch teil an Jesuinas Therapiestunde. Ehedem Putz- und Sexhilfe in der Casa da Morte in Petropolis, dem Todeshaus von Fleury, stottert die schwer traumatisierte Frau ihre unaussprechlichen Erlebnisse hervor. Fleury selbst liefert hingegen einen flotten Bericht, wie er seine Todesschwadron schmeißt. Eine junge Rechtsanwältin wendet sich an uns, um Verständnis bemüht. „Ich rede ihn mit Chef an und er nennt mich mein Mädchen.“ Sie wird Fleurys Geliebte, die im Austausch den lebensrettenden Pass für den Bruder bekommt.

Schließlich offenbart sich K. mit seiner unendlich oft erzählten Geschichte auch noch den politischen Gefangenen in einem Militärgefängnis, die er, eine Stange Zigaretten unterm Arm, besuchen darf. „Am Ende dieser Schriften werde ich erneut ein Schatten sein ohne Stimme“, lesen wir im Aufschlag des Buches – Worte des mosambikanischen Dichters Mia Couto. Über den Zeitraum seiner Suche hinweg wirkt K. wie herausgefallen aus einer Welt, in der er nichts mehr zu suchen hat.

„’K.‘ sollte zur Pflichtlektüre für alle Mitglieder unserer schüchternen Wahrheitskommission werden, die mit vier Jahrzehnten Verspätung ins Leben gerufen wurde, von der gegenwärtigen Regierung der ehemaligen politischen Gefangenen Dilma Rousseff“, so die brasilianische Psychoanalytikerin und Chronistin Maria Rita Kehl. Sie ist eine der sieben Mitglieder der Wahrheitskommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen vor, während und nach der Militärdiktatur von 1964 bis 1985.

Aufklärung und Gedächtnisarbeit

Auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt wird sie zum Thema sprechen. Dieses befremdliche „vor“ und „nach“ haben dabei die Militärs durchgesetzt. Es ist nicht die einzige Verwässerung. Die Kommission darf weder bestrafen noch Bestrafung empfehlen. Es mehren sich die Stimmen, die vor der folgenschweren Konsequenz eines banalen Schlusspunkts warnen. Anders als in Argentinien, Chile oder Uruguay brauchen die Täter in Brasilien eine Verurteilung bis heute kaum befürchten.

Bernardo Kucinskis Erzählung leistet Aufklärung und Gedächtnisarbeit im allerbesten Sinne – ein politisches Buch von hoher literarischer Qualität, von den brasilianischen Literaturkritikern hoch gelobt. Mit großem Einfühlungsvermögen breitet der Autor ein Geflecht aus Fakten und Dokumenten, Aussagen und Enthüllungen aus. Vieles lässt er offen, vieles bleibt ergänzungsbedürftig. Das Geflecht ist lückenhaft – und damit ein Spiegel der real existierenden (Nicht-) Aufarbeitung in der brasilianischen Gesellschaft.

Bei seinem Staatsbesuch in Brasilien 1968 erörterte der damalige Außenminister Willy Brandt mit den Putschisten die Möglichkeit einer nuklearen Zusammenarbeit. Im Jahr 1974 legte General Ernesto Geisel dem Oberkommando der Armee die Pläne für den Bau einer brasilianischen Atombombe vor. Mitte August 2013, mit der Öffnung bis dahin geheim gehaltener Dokumente, wurde dies zur offiziellen Gewissheit.

Die damalige Regierung der Bundesrepublik schloss 1975 mit dem Regime Ernesto Geisel das „Deutsch-brasilianische Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie“, in dessen Rahmen die Anreicherung von atomwaffenfähigem Material indes durchaus vorgesehen war. Die brasilianischen Medien feierten den Kontrakt damals übrigens als „Jahrhundertvertrag“.

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