Buch über Seelen- und Sexleben: Therapiert vom Sexualrevolutionär

Die Schweizer Autorin Eveline Hasler hat sich in "Stein bedeutet Liebe" der Beziehung von Dichterin Regina Ullmann und Sexualrevolutionär Otto Gross angenommen.

Warum nur Regina Ullmann? Die so langsam war, so kauzig gekleidet, die stotterte und schielte und so offenkundig unter der Fuchtel ihrer Mutter stand, dass viele sie für debil hielten? Das mögen sich viele in der Schwabinger Boheme gefragt haben, als Otto Gross, der skandalumwitterte Seelenarzt, 1907 begann, ausgerechnet die junge Schweizer Möchtegerndichterin zu therapieren. Von dem Sexualrevolutionär "therapiert" werden wollte damals schließlich so ziemlich jeder weibliche Stammgast des Cafés Stephanie.

Ein paar Monate später fasste Frieda Gross, die geplagte Gattin des unorthodoxen Freud-Schülers, die Ereignisse so zusammen: "Sie [Regina Ullmann] schriftstellert etwas, soll aber nicht hervorragend begabt sein. Er war aber von der Genialität der U. überzeugt und wollte ihr den Genius durch Analyse freimachen. Schließlich ließ er sich dazu hinreißen, ihr ein Kind zu zeugen." Ebenfalls gerade schwanger, war Frieda Gross am Ende ihrer Toleranz angekommen. Mit der Unterstützung Freuds "verordnete" sie ihrem schwer drogenabhängigen, zunehmend verantwortungslosen Mann eine Entziehungskur am Züricher Burghölzli, bei C. G. Jung persönlich.

Eveline Hasler hat sich jetzt der Geschichte von Regina Ullmann und Otto Gross angenommen. Die Schweizer Autorin ist darauf abonniert, vergessenen oder verkannten Frauen eine Stimme zu geben. Sie schrieb über die erste Schweizer Juristin Emily Kempin-Spyri, die "letzte Hexe" Anna Göldin oder die Berner Salondame Julie Bondeli. In bewährter Manier kombiniert Hasler auch diesmal Historie und Fiktion, knüpft in ihrer sinnlichen Sprache einen genau recherchierten Faktenteppich, montiert, durch Kursivschrift kenntlich gemacht, Originalzitate der Beteiligten in ihren Roman, der im Übrigen auf die Macht der Empathie vertraut. Ein Erfolgskonzept, das freilich da an seine Grenzen stößt, wo Hasler Dialoge schreibt, die einzig der Information des Lesers dienen.

Hasler deutet die Beziehung zwischen der introvertierten Regina Ullmann und dem charismatischen Analytiker, der als dubiose Figur durch zahlreiche expressionistische Romane geistert, als Begegnung zweier Seelenverwandter, beide hochgradig gefährdet, beide im Schatten übermächtiger Elternteile stehend. Gross sah in Ullmann ein Beispiel für den von ihm gefeierten "Charakter ersten Ranges", in dem sich das "Eigene" verzweifelt gegen das "Fremde" aus Erziehung und Gesellschaft wehrt. Und Ullmann sah in Gross nicht den Seelenmagier, sondern voller Mitleid den Kranken: "Das ist viel", schrieb sie über ihren Arzt Jahre später in der autobiografischen Erzählung "Konsultation", "noch dazu, wo er bereits mit sich selber zerfallen ist und ein 'Zuspät' sich zurufen muss. Das ist viel, wenn einer rettet, wo er selber sich für verloren gibt."

Dass Eveline Hasler Otto Gross Vater, dem Strafrechtler Hans Gross - der für die Expressionisten zum Buhmann wurde, als er seinen Sohn 1913 entmündigen und in die Psychiatrie stecken ließ - Gerechtigkeit widerfahren lässt, gehört zu den Vorzügen ihres Romans, ebenso dass sie die Hohlheit des Geredes von der Befreiung der Frau, dem Ende des Patriarchats und der kommenden Revolution fürs Mutterrecht entlarvt. Schon 1906 überließ der in der Frauenfrage sich engagiert zeigende Münchner Ökonom Hanns Dorn Regina Ullmann ihrem Schicksal, nachdem sie ein Kind von ihm erwartete, 1908 wiederholte Otto Gross diese Umgehensweise. "In pathetischen Worten", schreibt Hasler, "sprachen er und seine Anhänger über das Urweib, die Würde und Schönheit der Mutterschaft. Vom Vaterwerden sprachen sie nie." Für seine lebensuntüchtige Patientin hatte er, als letzten Liebesdienst sozusagen, nur eine Dosis Gift übrig.

Zum Glück für die Literatur hat Regina Ullmann es nicht genommen. Ihrer Kreativität scheint die eigenwillige Therapie tatsächlich gutgetan zu haben, ebenso nach 1908 die Unterstützung Rilkes, der bis zu seinem Tod ihr Mentor und Förderer blieb. Über den Status eines ewigen Geheimtipps ist Ullmann, eine literarische Schwester Kafkas und Robert Walsers, freilich nie hinausgekommen, trotz solch erlesener Verehrer ihres Werkes wie Hermann Hesse, Thomas Mann oder Robert Musil. Haslers Roman und eine zeitgleich bei Nagel & Kimche unter dem Titel "Die Landstraße" erschienene Neuausgabe von Regina Ullmanns Erzählungen, herausgegeben von Peter Hamm, sind eine gute Gelegenheit, sie neu zu entdecken.

Eveline Hasler: "Stein bedeutet Liebe. Regina Ullmann und Otto Gross". Nagel & Kimche, Zürich 2007, 176 Seiten, 19,90 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.