Buch über die Epoche der Frühaufklärung: Wie die Vernunft denken lernte

Eine umfangreiche Textsammlung dokumentiert den Weg zur europäischen Aufklärung – und versucht die komplexe Epoche begreifbar zu machen.

Eine mit einer pinken Farbbombe beworfene Statue von Immanuel Kant

„Sapere aude!“ bringt die Aufklärung auf den Punkt? Nicht ganz Foto: imago/ITAR-TASS

Kants berühmte Formulierung „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (1783) verführt zum Schluss, es handele sich bei der Aufklärung um eine leicht verständliche und schnell abzuhandelnde Angelegenheit.

Die 1.000 Seiten starke Darstellung der „Radikalen Frühaufklärung in Deutschland“ des Erfurter Philosophiehistorikers Martin Muslow belegt allerdings in zwei Bänden, dass die Herausbildung der Aufklärung in der Zeit von 1680 bis 1720 ein ebenso unübersichtlicher wie komplexer Prozess ist, der mit der Klarheit und Eindeutigkeit suggerierenden Gleichung „Modernisierung“ plus „Säkularisierung“ = „Aufklärung“ nicht einmal ansatzweise, geschweige denn präzis zu fassen ist.

Der Autor stützt sich auf rund 200 Schriften von unbekannten oder vergessenen Autoren. Es handelt sich um gedruckte, anonym erschienene, verbotene und überhaupt nur als Manuskript vorhandene Texte, die in Abschriften kursierten und sich im protestantischen Nord- und Ostdeutschland in Bibliotheken erhalten haben. Die Texte behandeln philosophische und theologische Themen, aber auch juristische und naturwissenschaftliche.

Neben Schriften mit wissenschaftlichem Anspruch sind darunter auch Provokationen und Pamphlete mit kritisch-ironischem und scherzhaft-verspottendem Charakter. Das Wort „radikal“ im Titel weist darauf hin, dass viele, aber keineswegs alle Schriften religionskritisch waren, einige auch apologetisch-orthodox oder moderat-religiös.

Von „Ketzermachern“ und „Radikalisierern“

Die Auseinandersetzungen mit Religion und Theologie, ob in kritischer, apologetischer oder moderater Absicht, bedeutet allerdings nicht, dass sich Autoren und Texte auch als politisch verstanden. Die Beschäftigung mit Religion umfasste inhaltlich eine große Bandbreite vom orthodoxen und moderaten Luthertum und mehr oder weniger striktem Pietismus bis zum Atheismus und zu alchemistisch-hermetischer Scharlatanerie.

Vertreter aller Richtungen bildeten in den 40 Jahren von 1680 bis 1720 ebenso vielfältige wie unübersichtliche Formen von Radikalität aus, verstanden sich aber als „eklektische“ Philosophen (Christoph Sturm 1635–1703) und bewegten sich auf einem Mittelweg („via media“) zwischen Vernunft und Aberglaube. Freilich agierten orthodoxe Verteidiger des Status quo oft heftig selbst auf zaghafte Religionskritik und wirkten förmlich als „Ketzer-“ und „Radikalenmacher“.

An zahlreichen Beispielen kann Muslow demonstrieren, dass die verschlungenen Wege und „Umwege, die die Herausbildung dessen, was sich später ‚Aufklärung‘ nannte“, aus dem Streit zwischen orthodoxen „Ketzermachern“ und religionskritischen „Radikalisierern“ hervorgehen.

Kriminalistische Akribie

Ein Grundzug der Frühaufklärung war ihre Ambivalenz, was die politischen Implikationen ihrer Schriften und Traktate betrifft. Ein Beispiel ist der Kieler Theologieprofessor Daniel Georg Morhof (1639–1691). Er sah in der Politik keinen Hebel für die Säkularisierung und wollte die „Göttlichkeit der königlichen Macht“ beweisen. Er verstand den König als „Heiler“ der Pervertierung und Korruption der Macht zum Götzendienst („Idolatrie“): „Wir wünschen uns ernsthaft, dass wir alle Fürsten als Heilige haben – durch die das öffentliche Heil (salus publica) wiederhergestellt wird und die Skrofeln der Kirchen, der Staaten und der Scholaren als unnütze Last […] beseitigt werden.“

Schüler von Christian Thomasius dagegen wandten sich entschieden gegen ein „göttliches Recht“ („ius divinum“) und plädierten für die Trennung von Theologie und Wissenschaft, Glaube und Recht.

Mit kriminalistischer Akribie spürt Martin Mulsow Herkunft und Verbreitung von anonymen Handschriften auf. Anfang des 18. Jahrhunderts tauchten in Hamburg, Dresden, Leipzig und Gotha Abschriften eines Textes des „Judaeus Lusitanus“ („Der portugiesische Jude“) auf. La Croze, der Bibliothekar des preußischen Königs, bekam 1709 ein Exemplar in die Hand und begann mit der Übersetzung, die er vorsichtshalber verbrannte, weil der Text voller Blasphemien war. „Der portugiesische Jude“ bestritt die Göttlichkeit von Jesus Christus, die Lehre von der Dreieinigkeit (Trinität) und die Jungfrauengeburt.

Ein abenteuerlicher Weg

Moses Raphael d’Aguilar (gest. 1679), ein spanischer Jude, war der Lehrer des vermutlichen Autors der anonymen Handschrift und verfasste eine Schrift, in der er die Grundlagen des Christentums als vernunft- und bibelwidrig darstellte. Samuel Crell (1660–1747) betrieb in Amsterdam einen Handel mit Manuskripten und war an einer Übersetzung ebenso interessiert wie Bibliothekare und Raritätensammler in Bern, im Waadtland, Hamburg und Frankfurt, womit die „clandestine Karriere“ des Manuskripts begann, das heißt der Weg in die atheistische Aufklärung.

Crell war Anhänger der Lehre von Fausto Sozzini (1539–1604), das heißt des Sozinianismus, einer vor allem in Polen verbreiteten Sekte, die die Trinitätslehre und die Göttlichkeit von Jesus Christus bestritt und eine rationalistische Bibelinterpretation vertrat.

Martin Mulsow: „Radikale Frühaufklärung in Deutschland. 1680–1720“, Bd. 1: „Moderne aus dem Untergrund“, Bd. 2: „Clandestine Vernunft“. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, zusammen 1.126 Seiten, 59,90 Euro.

Wie abenteuerlich der Weg zur Aufklärung verlief, zeigt die Geschichte der Schrift „De tribus impostoribus“ (1688 „Über die drei Betrüger“) – gemeint waren Moses, Jesus Christus und Mohammed, die Väter von Judentum, Christentum und Islam. Die Pointe: Ein Student kopierte im Haus des protestantisch-orthodoxen Hauptpastors Johann Friedrich Mayer (1650–1712) in Hamburg das Manuskript des Juristen Johann Joachim Müller, der seinen Freund Mayer satirisch „an einer Hakennase aufspießen“ wollte mit einer spöttisch-unernst gemeinten Satire, wie sie unter Theologen und Juristen üblich war.

Seit der Antike werden Satyrn mit Hakennase dargestellt. Die Grenze zwischen Spott und Ernst blieb allerdings ambivalent, weil man aus Müllers scharfsinnigem Text die Konsequenz ziehen konnte, dass Religionen lügen und betrügen würden und folglich nur der Ausweg aus der Notlage bleibe, alle Religionen rational und mit gleicher Akribie auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen.

Akademischer Spott konnte den ersten Schritt zur Religions­kritik bilden

Oder kürzer und schroffer, die Basis für Skepsis legend: Wir können Gott rational nicht begreifen, also gibt es ihn nicht. Ein akademischer Spaß konnte so den ersten Schritt zur Radikalisierung von Religionskritik bilden. Ernsthafte und dauerhafte Zweifel an der Religion übertrafen den kurzlebigen Spott. Auch die Schrift „Über die drei Betrüger“ machte eine beachtliche Karriere im klandestinen Untergrund des protestantischen Europa.

Bereits 1680 erschien unter dem Titel „Symbolum sapientiae“ („Wahrzeichen der Wissenschaft“) anonym eine Schrift, die die Kritik an Götzendienst und Aberglauben zur Kritik an Religion überhaupt radikalisierte: „Nullum inter religionum et superstitionem esse discrimen“ („Es gibt keinen Unterschied zwischen Religion und Aberglauben“). Die Argumentation verrät den Autor als Leser der Schriften von Hobbes, Spinoza und Bayle, den markantesten Vertretern der politischen Theologie in Richtung eines religionsindifferenten Deismus/Pantheismus, der nicht mehr Menschen mit exklusivem Glauben verpflichtet ist, sondern allen mit „natürlicher Vernunft“ ausgestatteten Menschen.

Die Frühaufklärung spaltete sich in eine skeptische Aufklärung und eine konservative Aufklärung, wobei die Grenzen zwischen beiden nicht scharf zu ziehen sind. Das trifft auch auf die zahlreichen Konzepte zum Naturrecht und dessen Verhältnis zu Religion und Theologie zu.

Die überwältigende Materialfülle macht die Lektüre der beiden Bände nicht gerade einfach. Es fällt auch nicht leicht, der manchmal etwas barock-umständlichen Argumentation des Autors zu folgen. Aber an der Bedeutung des eindrücklichen Werks ändert das nichts.

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