Buchautor über Europa nach 1945: „Ich wollte Mythen widerlegen“

Der britische Historiker Keith Lowe sieht Europa nach 1945 keineswegs sofort zur Normalität zurückkehren. Im Gegenteil: Es habe das das Chaos regiert.

Britische Soldaten im französischen Caen im Juli 1944 – kurz nachdem sie die deutschen Truppen aus der Stadt gedrängt hatten. Bild: reuters

taz: Herr Lowe, Ihr Buch „Der wilde Kontinent“ widmet sich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – und nicht allein dem besiegten Deutschland. Was war in Europa wild?

Keith Lowe: Ich wollte einige Mythen widerlegen. Beispielsweise, dass nach dem Mai 1945, dem Kriegsende, alles wieder zur Normalität zurückkehrte. Aber das war nirgendwo der Fall. Nicht einmal in Großbritannien.

Die einen waren besiegt, Italien und Deutschland, andere waren die Sieger.

Ja, so könnte man es knapp sagen. Aber die allgemeinen Themen, um die es am Ende des Krieges ging, waren in allen Ländern gleich.

Was war gleich?

Ein Gefühl des Chaos. Es gab überall mehr Verbrechen, mehr Gewalt. Und Rache gab es. Mit dem Kriegsende war keine Ruhe eingekehrt, im Gegenteil.

In Deutschland ist der 8. Mai 1945 das entscheidende Datum: Die Freiheit konnte beginnen.

Alle Länder erzählen sich diesen Krieg verschieden – und in Deutschland ist es so, wie Sie es benennen. Mein Blick sollte ein europäischer sein. Und: Nichts lief bruchlos. Deutschland war zum Beispiel noch für Jahre ein besetztes Land. Überall in Europa zogen die Menschen umher.

Wie die, so heißt es, Heimatvertriebenen in Deutschland. Über deren Geschichte wissen wir immerhin einiges.

Über andere weniger. Im Mai 1945 gab es aber auch acht Millionen Heimatvertriebene aus den anderen europäischen Ländern. Sich vorzustellen, dass das Leben irgendwie einfach so wieder zur Normalität zurückgekehrt wäre, ist Unsinn.

Wie sah es etwa in Deutschland aus, in Großbritannien, Italien und Jugoslawien?

Es mangelte überall an Nahrung. In Italien beispielsweise gab es Essensaufstände. Die Frauen protestierten auf der Straße gegen die alliierte Regierung. Es gab Ladeneinbrüche, Diebstähle – überall. Arbeiter wurden mit Essen bezahlt, weil das Geld wertlos war, besonders in Ungarn. Die Leute, die keine Arbeit hatten, hatten es besonders schwer. Sogar in Großbritannien war die Verpflegungssituation nach dem Krieg schlechter als während des Krieges.

„Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950“. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014, 526 Seiten, 26,95 Euro.

Immerhin: Der Krieg war zu Ende.

Man muss es so zwiespältig sagen: Das Gefühl der Sicherheit im Alltag war weg. Die Institutionen in Osteuropa, in Deutschland waren gewaltsam in die Brüche gegangen – und die Institutionen, die den Krieg überstanden haben, waren diskreditiert. Niemand traute ihnen mehr. Es war eine wirklich günstige Zeit für Kriminelle.

Was bedeutete dies im Alltag?

Dass plündern möglich war. Du kannst deinem Nachbarn Sachen stehlen. Oder du kannst endlich deinem Groll, den du vielleicht den ganzen Krieg hindurch auf ihn gehabt hast, Luft machen und handeln, weil dich niemand aufhalten wird. Überall in Europa gibt es Mitglieder der Polizei, die sich verstecken. Sie wollen nicht, dass Leute erfahren, dass sie Polizisten sind, weil die Polizei diskreditiert ist.

Überall?

Beinahe überall, ja. Auf jeden Fall in Italien, mit Sicherheit in Deutschland, in Frankreich und auf jeden Fall in Polen. Es gibt die neue, selbsternannte Polizei. Milizionäre, die aus den Widerstandsbewegungen kamen – aber sie hatten oft ihre eigene politische Agenda.

Wie sah es in Skandinavien aus?

Auch in Norwegen war die Unzufriedenheit mit der Polizei groß. Also übernahm die Widerstandsbewegung gegen die NS-Besatzer viele Bereiche der Polizei. Aber sie hatte es nicht auf Recht und Gesetz abgesehen, sondern sie waren auch racheerfüllt.

Sie sprechen nicht von den Millionen traumatisierter Menschen – von überlebenden Juden, Kriegsgefangenen?

Gewissermaßen war sogar jeder traumatisiert, wenn man bedenkt, dass 35 Millionen Menschen getötet wurden. Das sind eine Menge Brüder und Väter und Onkel und Töchter und Ehefrauen. Die Menschen, die zurückgeblieben waren, trauerten. Sogar die Menschen, die glaubten, dass sie nicht vom Krieg betroffen waren. In Schweden zum Beispiel, einem neutralen Land, stieg die Jugendkriminalität während des Krieges steil an. Es gibt keinen verständlichen Grund dafür – bis auf die Kriegsatmosphäre.

Würden Sie Europa als einen Kontinent der Entzivilisierung beschreiben?

Vielleicht. Sehr viele Menschen fragten sich: Wie konnte es so mit uns kommen? Besonders in Deutschland, dem Land von Beethoven und Goethe. Und es gibt diese allgemeine Auffassung, dass wir irgendwie entzivilisiert wurden. Daher auch der Titel des Buches auf Englisch, „The Savage Continent“. Dass wir zu Wilden geworden sind.

Ist Europa wieder ein weitgehend zivilisierter Ort?

Ja, aber wie definieren Sie Zivilisation? Eine zivilisierte Gesellschaft schränkt die Freiheit der Leute auf eine Art und Weise ein, mit der wir alle mehr oder weniger übereinstimmen. Die Zeit, über die ich geschrieben habe, ist eine, in der es keine verlässlichen Institutionen gibt. Aber es gibt Menschen, die versuchen, sie wieder aufzubauen. Große, starke Institutionen wie die EU – sie unter anderem hat das europäische Leben wieder zivilisiert gemacht.

War der mit dem Jahr 1945 beginnende Kalte Krieg eine Art Ordnungssystem der Beruhigung?

Ich würde sagen, dass es verschiedene Methoden des Ordnens gab im Westen und im Osten. Beide funktionierten. Wir können ja nicht leugnen, dass auch durch die sowjetische Art der Ordnung es tatsächlich gewaltfreier wurde. In Europa herrschte bis 1989 eine Ordnung, die zur Ruhe beitrug. Ein gemeinsamer Feind gibt einem wieder eine gemeinsame Bestimmung.

So wie die Bundesrepublik und Frankreich eine Systemopposition hatten und auf die alte deutsch-französische Feindschaft verzichteten?

In der Tat. Eine der Sachen, die hervorgehoben wurden, als die EU den Friedensnobelpreis gewonnen hat, war, dass der Gedanke, Frankreich und Deutschland seien Feinde, heutzutage unvorstellbar ist.

Die Geburt der USA wurde mit einem Bürgerkrieg bezahlt – die Europas mit den Kriegen des 20. Jahrhunderts?

Es gibt niemanden in der EU, der den Zweiten Weltkrieg in Europa nicht als Mythos erwähnt. Es macht einen wichtigen Teil unserer Identität aus, dass wir aus dem Krieg geboren wurden.

In Ihrem Buch stellen Sie die These auf, dass der Krieg im Jugoslawien der neunziger Jahre daraus resultierte, dass das Land nicht ethnisch unterteilt war. Dass sie einen Preis dafür bezahlen mussten, dass sie ethnisch immer sehr durchmischt waren?

Jugoslawien war seit seiner Reformierung mit dem Jahr 1945 nie ein Land, das im Reinen mit sich selber war.

Nicht mal unter Marschall Josip Broz Tito?

Unter ihm gab es eine auferlegte Kontrolle. Aber so blieb alles unter dem Teppich liegen. Sobald Tito weg war, tauchten die Konflikte zwischen Serben, Kroaten, Bosniern und Slowenen wieder auf. Sie wurden nie so aufgearbeitet wie in Deutschland beispielsweise.

Heißt das, die Konstruktion einer ethnischen Reinheit in vielen Ländern – etwa in der Tschechoslowakei oder in Polen – war hilfreich bei der Rezivilisierung nach 1945?

Sie hat eine Funktion erfüllt, würde ich sagen. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die Sieger versucht, die Grenzen an die ethnischen Bevölkerungsgruppen anzupassen – doch das war unmöglich. Die Sieger des Zweiten Weltkriegs versuchten das Gegenteil: Sie veränderten die Bevölkerung, um sie an die Grenzen anzupassen. Und das funktionierte besser. Nach meinem Urteil war der Kalte Krieg ein viel wichtigerer Grund, warum wir die ganzen ethnischen Unterschiede vergessen haben.

Haben Sie eine Idee für die Zukunft Europas?

Es gibt heute viel mehr Nationalismus als vor 20 Jahren. Ich sehe es auch in Großbritannien. Wir sprechen darüber, die EU zu verlassen. Verrückte Dinge, die niemand vorher in Betracht gezogen hätte. Ich glaube, was da gerade mit Russland läuft an den Grenzen oder im Süden der Türkei, ist sehr gefährlich, aber eben auch eine Chance für mehr Einheit. Wenn man einen Feind hat, ist es leichter, zusammenzukommen und sich zu vereinen.

Aber es ist ein gefährliches Unterfangen, weil es ein Monster erschaffen könnte. Und Putin, so sehr ich seine Politik nicht mag, ist kein Monster. Er ist nicht, wie Hilary Clinton es sieht, ein neuer Hitler. Wir leben jetzt in einer neuen Zeit der Furcht. Und Furcht ist gefährlich. Sie lässt Menschen dumme Dinge machen und sagen – ich habe Sorge, dass dies eine selbsterfüllende Prophezeiung ist.

Glauben Sie an Europa?

Unbedingt. Niemand in Großbritannien ist sehr beliebt, wenn er das sagt. Europa ist aber unerlässlich. Ich glaube nicht, dass das Europa, das wir jetzt haben, das beste Europa ist, aber es ist besser als kein Europa.

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