Bunagana im Ostkongo: Schule ist Luxus

Die UN will eine ökologische Entwicklungsagenda beschließen. Was kann sie bringen?

Refugees aus der Demokratischen Republik Kongo in einem Camp in Bunagana im Mai 2012. Bild: reuters

Wenn man auf den Hügeln von Bunagana steht, an der Grenze zwischen Uganda und der Demokratischen Republik Kongo, ist jeder Gedanke an Mangel und Elend weit weg. Üppige grüne Wiesen und fruchtbare Felder erstrecken sich bis an den Horizont. Hochbeladene Lastwagen stauen sich am Grenzposten, auf dem Markt der ostkongolesischen Grenzstadt herrscht geschäftiges Treiben und Waren stapeln sich scheinbar im Überfluss. Die Luft ist frisch und klar, die bewaldeten Berge mit hinreißenden Fernblicken laden zum Verweilen ein.

Und doch ist dies nicht das Paradies auf Erden, sondern eine der ärmsten Ecken der Welt. Der Distrikt Kisoro im äußersten Südwesten Ugandas ist einer der ärmsten des Landes: Über die Hälfte der Kinder haben Wachstumsstörungen infolge von Unterernährung, weit mehr als der nationale Durchschnitt von einem Drittel. Auf der kongolesischen Seite, im Distrikt Rutshuru, herrscht Dauerkrieg zwischen Milizen, Rebellen und einer chronisch undisziplinierten Armee; die Menschen kennen seit Generationen keine Sicherheit mehr und in den Dörfern herrscht die nackte Not.

Millenniumsziel Nummer 1A ist erreicht

Kongo gehört zu den Schlusslichtern der globalen Entwicklung, das ist bekannt. Uganda hingegen gehört eigentlich zu den Ländern Afrikas, die auf einem guten Weg sind, die Millennium- Entwicklungsziele (MDGs) der Vereinten Nationen zu erreichen. Der Anteil der ugandischen Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag ist zwischen 1992 und 2009 von 57 auf 25 Prozent gefallen – das Ziel einer Halbierung bis 2015, Millenniumsziel Nummer 1A, ist also längst erreicht. Andere Ziele kommen auch voran: Die Halbierung des Anteils der Hungernden an Ugandas Gesamtbevölkerung sowie die Halbierung des Anteils der Menschen ohne Zugang zu sauberem Wasser ist nach Angaben des letzten MDG-Fortschrittsberichts des UN-Entwicklungsprogramms UNDP für Uganda von Ende 2013 „on track”, ebenso die Überwindung von Genderdisparitäten in der Bildung, die Gewährleistung universellen Zugangs zu HIV/Aids-Behandlung, das Ende der weiteren Ausbreitung von Malaria.

Das einzige Problemfeld in Uganda, statistisch gesehen, ist paradoxerweise das Ende der weiteren Ausbreitung von HIV/Aids – da war Uganda schon vor zwanzig Jahren so weit vorn, dass weitere Fortschritte kaum möglich waren. Uganda steht damit besser da als die meisten Länder Afrikas, das trotz aller jüngsten Fortschritte nach wie vor der Problemkontinent bei der globalen Armutsbekämpfung ist – rechnet man Afrika heraus, steht die Erfüllung aller Millenniumsziele weltweit schon lange fest. Uganda aber gehört ebenso wie Ruanda, Äthiopien, Ghana und einige weitere Länder zu jenen, die seit Jahren konstant mit fast asiatischen Wachstumsraten die Welt verblüffen. Seit Anfang des Jahrhunderts hat sich das ugandische Nationaleinkommen mehr als verdoppelt.

Aus der einst geruhsamen Hauptstadt Kampala ist eine wuchernde, pulsierende Metropole geworden. Selbst das bitterarme Kisoro befindet sich in einem nicht enden wollenden Wirtschaftsboom, getragen hauptsächlich vom Tourismus; es modernisiert sich rasant und wächst schneller als die meisten anderen Ecken Ugandas.

In Uganda sind Familien mit sieben Kindern die Regel

Das dicht besiedelte Land am Äquator von der Größe der alten Bundesrepublik Deutschland mit knapp vierzig Millionen Einwohnern widerlegt damit Theorien, nach denen zwei der markantesten Merkmale der jüngeren ugandischen Entwicklung eigentlich Entwicklungshindernisse darstellen: ein Präsident Yoweri Museveni, der 70 Jahre alt ist, seit nunmehr fast dreißig Jahren regiert und damit einer der dienstältesten der Welt ist, und ein mit 3,2 Prozent im Jahr unangefochten an der Weltspitze liegendes Bevölkerungswachstum. In Uganda sind Familien mit sieben Kindern die Regel, nicht die Ausnahme, und bis Mitte des 21. Jahrhunderts dürfte das Land mehr Einwohner zählen als jeder EU-Staat und sogar mehr als Russland. Mehr Kinder sind mehr Arbeitskraft und mehr Reichtum, hämmert Präsident Museveni unablässig seiner Bevölkerung ein.

Im kommenden Jahr will sich Museveni wiederwählen lassen. Seine Bilanz müsste unangefochten sein. Sie ist es aber nicht. In der ugandischen Bevölkerung sieht man vor allem die Kehrseiten der Entwicklung: zu wenig Arbeitsplätze und Einkommen; zu viel Korruption und Ungleichheit; eine an der Macht klebende alternde Elite mit allen Privilegien und Rechten und eine junge Generation, die sehen kann, wo sie bleibt. 600.000 junge Ugander drängen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt, aber nur zehn Prozent davon finden einen regulär bezahlten formellen Job. Nur 54 Prozent der Kinder beenden auch nur die Grundschule. Strom und fließendes Wasser sind noch immer einer kleinen Minderheit vorbehalten. Die Landwirtschaft, von der nach wie vor die meisten Ugander leben, wächst nicht mehr.

Wo die Grenze verläuft

Die Fruchtbarkeit der Böden lässt nach, die Feuchtgebiete des Landes machen nur noch 2 Prozent der Landesfläche aus, gegenüber ursprünglich 13 Prozent; die Wälder schrumpfen – um über ein Drittel insgesamt seit 1990, von 25 auf 15 Prozent des Landes. Diese letztgenannten Phänomene machen sich insbesondere in dicht besiedelten ländlichen Distrikten wie Kisoro bemerkbar. Auf Fotos und aus der Luft ist ganz klar zu sehen, wo die Grenze zwischen dem Nationalpark „Bwindi Impenetrable Forest” mit seinen seltenen Berggorillas und dem bewohnten Land rundherum verläuft: Auf der einen Seite ist dichter Wald, auf der anderen Seite sind Terrassenfelder. Nach Erhebungen des US-Entwicklungsprogramms USAID verschwinden in Uganda 55.000 Hektar Wald pro Jahr, 25 Millionen Tonnen Holz werden jährlich im Land verbraucht, davon zwei Drittel als Brennholz. Ugandas Wälder gehören zu den artenreichsten der Welt. Die gemessen an seiner Fläche einzigartige biologische Vielfalt des Landes ist ein unschätzbarer Reichtum, der in keiner Statistik auftaucht und in keinem Entwicklungsziel beachtet wird.

Das Fehlen ökologischer Ziele und Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitskriterien in den MDGs, die auf das Jahr 2000 zurückgehen, ist eines der wichtigsten Probleme, mit denen sich die Diskussion über eine sogenannte Post-MDG-Agenda befasst hat. Im September 2015 soll nun die UN-Vollversammlung als Nachfolger der Millenniums-Entwicklungsziele eine Reihe sogenannter nachhaltiger Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) beschließen, um diese Lücken zu schließen. An die Stelle der acht MDGs, jeweils in mehrere zumeist konkret messbare Ziele gegliedert, treten damit 17 SDGs, die sehr viel ambitionierter sind, aber auch schwammiger: vom Ziel 1 „Armut in all ihren Formen überall beenden” über Ziel 10 „Ungleichheit zwischen und innerhalb von Ländern verringern” bis zum Ziel 16 „Friedliche und inklusive Gesellschaften für nachhaltige Entwicklung fördern, Zugang zur Gerechtigkeit für alle gewährleisten und auf allen Ebenen effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen aufbauen”.

Warum ist die Bevölkerung immer noch so arm?

Diese Zielsetzungen folgen auf die Einsicht des ersten UN-Berichts zum Thema aus dem Jahr 2012, dass „inklusive wirtschaftliche und soziale Entwicklung”, ökologische Nachhaltigkeit sowie Frieden und Sicherheit Teil der entwicklungspolitischen Agenda nach 2015 sein müssen. Den SDGs fehlen allerdings die zwei entscheidenden Hebel, die es einfach machten, in der Politik von Entwicklungsländern auf Umsetzung der MDGs zu pochen: Sie sind weder mit Fristen verbunden noch sind sie anhand der Situation der Menschen messbar. Bei den Millenniums-Entwicklungszielen war es in jedem Land möglich, konkrete und detaillierte Zielvorgaben in einzelnen Politikbereichen zu definieren und regelmäßig nachzuvollziehen, ob und mit welcher Geschwindigkeit man sich dem Ziel nähert.

Das setzte die Regierungen unter Zugzwang und bescherte zivilgesellschftlichen Aktionsgruppen eine einfache Plattform, um Kritik zu üben und Forderungen zu stellen. So ist in Uganda nach dem letzten UNDP-Fortschrittsbericht der Anteil der untergewichtigen Kinder zwischen 1995 bis 2011 von 25 auf 14 Prozent gesunken – ein Erreichen der Zielvorgabe „10 Prozent” bis 2015 ist damit zwar möglich, aber nicht selbstverständlich. Der Rückgang der Kindersterblichkeit von 156 auf 90 von 1.000 Kindern unter fünf Jahren im gleichen Zeitraum hingegen macht es unwahrscheinlich, die Zielmarke 56 bis zum Jahr 2015 zu erreichen. Mit den SDGs sind solche Messungen, aus denen politischer Handlungsbedarf unwiderlegbar abgeleitet werden kann, nicht mehr möglich.

Ob die SDGs helfen, die offensichtlichen Ungleichgewichte der Entwicklung von Kisoro zu lindern, bleibt damit zweifelhaft. Ohne die üppigen tropischen Bergwälder ist im Südwesten Ugandas zwar mehr Platz, um auf dem fruchtbaren Boden Kartoffeln und Bohnen und Kohl und andere Gemüsesorten anzubauen, die von diesem Distrikt aus ins ganze Land geliefert werden, auch in Nachbarländer wie Kongo und Ruanda, und die sogar das UN-Welternährungsprogramm WFP für Nothilfe in entfernten Ländern wie Somalia kauft. Aber die Kleinbauern auf den Hügeln verdienen damit auch mit härtester Arbeit nicht genug, um sich selbst aus der Armut zu lösen. Präsident Museveni wunderte sich vor wenigen Monaten anlässlich einer Reise nach Kisoro, warum denn die Bevölkerung immer noch so arm sei: Seine Regierung hätte doch alles richtig gemacht, Straßen gebaut, Schulen und Krankenhäuser – alles. Die Antwort, so lokale Politiker: Um zu überleben, verkaufen die Bauern ihre gesamte Produktion noch vor der Ernte an Großhändler, und so bleibt vor Ort zu wenig Nahrung übrig.

Armut geht zurück aber die Unterernährung bleibt

So kommt es zu dem Phänomen, dass in Kisoro zwar die Armut zurückgeht, aber die Unterernährung hoch bleibt, und dass ständig tonnenschwere Lastwagen voller Agrarprodukte die Straßen hinabdonnern und die Bevölkerung trotzdem zu wenig zu essen hat. Jenseits der Grenze, im ostkongolesischen Distrikt Rutshuru, ist dieses Problem noch größer. Wegen der anhaltenden Unsicherheit und dem Fehlen jeglicher Investition in Infrastruktur und Landwirtschaft sind die Bauern komplett auf sich selbst angewiesen. Die kongolesischen Felder liegen brach, weil Milizen und Soldaten den Bauern die Ernten stehlen und Saatgut knapp und teuer ist. Wer überhaupt mehr anbaut, als für den Eigenbedarf nötig ist, bringt es in die ferne Provinzhauptstadt Goma mit ihren teuren Hotels und Restaurants oder trägt es auf dem eigenen Rücken über die Grenze nach Uganda, weil dort Abnehmer sitzen, die Cash auf den Tisch legen. Ugandische Billigware überschwemmt derweil die Märkte von Bunagana und der 25 Kilometer entfernten Distrikthauptstadt Rutshuru. Importe hingegen sind im Ostkongo lukrativ.

Auf der kongolesischen Seite der Grenze in Bunagana kostet eine Kuh 250 bis 300 US-Dollar, auf der ugandischen nur 200. 50 ugandische Kühe pro Woche überqueren daher als Importware den Grenzposten, um die vom Krieg zwischen Armee und den ostkongolesischen M23-Rebellen sowie den ruandischen FDLR-Milizen dezimierten Rinderherden Ostkongos wieder aufzustocken. Auf jede Kuh erhebt der Staat sechs Dollar „Veterinärsteuer”, wovon ein Drittel direkt an die Armee geht; dazu kommen zwei Dollar Zoll und ein Dollar für die traditionelle Verwaltung. Macht fast 2.000 Dollar staatliche Einnahmen aus dem Rinderimport pro Monat. Das ist mehr als das Budget der Distriktverwaltung. Dazu kommt die Gewinnspanne der Importeure beim Weiterverkauf im Kongo, und diese Importeure sind eng mit den Behörden verflochten.

Für den kongolesischen Staat zahlt es sich also am besten aus, wenn die eigenen Herden regelmäßig von bewaffneten Gruppen gestohlen und gegessen werden und dafür neue aus Uganda eingekauft werden müssen. Solche Dysfunktionalitäten setzen sich in der Demokratischen Republik Kongo in jeder Provinz und auf jeder Ebene fort. Das erklärt, warum eines der potenziell reichsten Länder Afrikas von der Erfüllung der MDGs ungefähr am weitesten entfernt ist: Alle Entwicklungsindikatoren des Kongo sind heute schlechter als im Jahr 1990. Was Uganda mit Erfolg tut, um die Rahmenbedingungen zu verändern – massive Investitionen in Straßenbau und soziale Infrastruktur –, ist im Kongo nicht zu sehen.

Kinder zur Schule schicken heißt: weniger Arbeitskraft

Aber woran liegt es, dass auch in Uganda manche MDG-Indikatoren hartnäckig unverändert bleiben, obwohl die Rahmenbedingungen besser werden? Die MDG-Ziele zur Bildung beispielsweise werden vermutlich nicht erfüllt, obwohl Präsident Museveni als einer der ersten Präsidenten Afrikas in den 1990er- Jahren die allgemeine kostenlose Grundschulbildung einführte und seitdem massiv ins Schulsystem investiert hat. Der Grund, so haben Forscher herausgefunden: Staatliche Investitionen ins Bildungswesen ersetzen keine Anreize für Familien, ihre Kinder zur Schule zu schicken.

In den meisten Bauernfamilien überall in Afrika ist es selbstverständlich, dass Kinder mitarbeiten, sobald sie laufen können. Kinder zur Schule schicken heißt: weniger Arbeitskraft zu Hause. Familien am Rande des Existenzminimums, wie die Bauern von Kisoro, schicken ihre Kinder lieber auf die Felder als ins Klassenzimmer, egal wie neu die Dorfschule ist. Sie werden vielleicht, zumal wenn es kostenloses Schulessen gibt, ihre Kinder Lesen und Schreiben lernen lassen – aber alles, was darüber hinausgeht, gilt als überflüssiger Luxus. Ähnliche Erkenntnisse gibt es, was Verkehrsinfrastruktur angeht: Gute geteerte Straßen sind zwar die Vorbedingung für ländliche Entwicklung, aber sie ersetzen diese nicht.

Letztendlich führt nach wie vor nichts daran vorbei: Ein allgemeines Anheben der Haushaltseinkommen aufgrund eigenverantwortlicher Tätigkeit ist der einzige nachhaltige Weg aus der Armut. Das haben asiatische Länder geschafft, und ihnen wollen es afrikanische gleichtun. Millenniumsziele, „nachhaltige Entwicklung”? Letztendlich ist das nicht mehr als eine Reihe von Mahnungen.

DOMINIC JOHNSON

Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeozwei 3/2015. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.