Bundestagswahlkampf in der Diaspora: Kandidat Stader, kein Besserwessi

Ein rheinländischer Katholik im Osten: SPD-Mann Stefan Maria Stader möchte das Vertrauen der Wähler in Dessau–Wittenberg zurückgewinnen.

drei alte Männer sitzen auf einer Bank vor einer Wand, darauf ein SPD-Plakat mit dem Gesicht von Klaus Maria Stader

SPD-Sommerfest in Dessau-Roßlau: Die Stimmung war schon mal besser Foto: Pascal Beucker

DESSAU-ROßLAU/BERLIN taz | Stefan Maria Stader steht auf einer Wiese und hört zu. Zum Auftakt des Heimat- und Schifferfests sind auf dem Luchplatz im sachsen-anhaltinischen Roßlau gerade feierlich die 88 Fahnen der Elbanrainerstädte gehisst worden. Am Ende der kleinen Zeremonie gesellt sich ein alter Mann mit seinem Fahrrad zu ihm. Und beginnt aus seinem Leben zu erzählen.

Von den 43 Jahren, die er auf der einst großen Roßlauer Schiffswerft gearbeitet hat. Von den vielen Fischkuttern, die hier zu DDR-Zeiten vor allem für die Sowjetunion gebaut wurden. Von dem Schiff, das er 1972 nach Kuba überführt hat. „Drei Monate waren wir auf dem Wasser“, sagt er. Seine Augen glänzen.

Stader hat die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Er trägt wie immer einen Schal statt Krawatte, heute in Lila. Mit seiner recht imposanten Leibesfülle und seinem niederrheinischen Akzent strahlt der 59-Jährige etwas Gemütliches aus. Den alten Mann unterbricht er nicht.

Als nach der Wende die Treuhand die Werft übernahm, hätten hier noch 2.300 Menschen gearbeitet, berichtet der. Jetzt seien es keine 300 mehr. Der Chemiefabrik im Ort ist es nicht anders ergangen. In seine Stimme kommt Wehmut. Er selbst ist damals in Rente gegangen. „Das ist mir sehr schwer gefallen“, sagt der alte Mann. „Aber das ist jetzt auch schon lange her, ich werde ja nun schon 80 Jahre alt.“ Stader nickt verständnisvoll. Zum Abschluss verabschieden sich die beiden per Handschlag.

Ein unerschütterlicher Wahlkämpfer

In den vergangenen zehn Monaten hat Stader viele solcher Begegnungen. „Zuhören ist wichtig“, sagt er. Der Mann mit dem Schal ist ein unerschütterlicher Wahlkämpfer, auch wenn seine Aussichten wie die vieler Sozialdemokraten alles andere als gut sind. Bei der Wahl 2013 konnte im gesamten Osten nur der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Direktmandat für die SPD ergattern. Wenig spricht dafür, dass die Wahl am 24. September besser ausgeht.

Im Herbst 2016 entschied sich Stader dafür, bei der Bundestagswahl im Wahlkreis Dessau–Wittenberg in Sachsen-Anhalt anzutreten. Ein Jahr lang hatte die örtliche SPD vergeblich nach einem Kandidaten gesucht. Dann fiel dem Wittenberger SPD-Kreisvorsitzenden und Europaabgeordneten Arne Lietz sein alter Kollege ein. Die beiden kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit als Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion. Seit 2001 arbeitet Stader dort. Er ist Büroleiter eines Kölner Bundestagsabgeordneten. Nach ein paar Tagen des Nachdenkens griff er zu.

„Wenn wir die Menschen zurückgewinnen wollen, müssen wir ihnen die Sicherheit für ihr Leben zurückgeben.“

Einen Tag nach dem Roßlauer Heimat- und Schifferfest sitzt Stader in einem Berliner Café und redet über seine Beweggründe, in die Bresche zu springen. „Das war keine leichte Entscheidung“, sagt der 59-Jährige. Fast vierzig Jahre lang hat er immer Wahlkampf für andere gemacht. „Da fand ich, es ist Zeit, jetzt auch mal meinen eigenen machen zu können.“ Er macht sich mit Galgenhumor Mut: „Ich habe zwar keine Chance, aber die nutze ich“, lacht er – ohne dass es bitter klingt.

Mit dem gebürtigen Mönchengladbacher tritt ein westdeutscher Sozialdemokrat in der ostdeutschen Diaspora, ein gläubiger Katholik im Kernland der Reformation an. Das klingt nicht nach einer Erfolgsgeschichte. Doch Stader glaubt, dass das passt. „Ich bin kein Besserwessi, die die Menschen belehren will, sondern habe Respekt vor ihren Biographien“, sagt er. „Ich lerne gerade unheimlich viel dazu.“

Teures Vergnügen

Das kostet den Katzenfreund nicht nur viel Zeit, sondern auch eine Menge Geld. Um mehr als nur zwei- bis dreimal in der Woche vor Ort sein zu können, hat sich Stader für die letzten fünf Wochen bis zur Wahl seinen Jahresurlaub genommen. Das ist nicht seine einzige Investition. Denn Wahlkampf ist teuer.

Alle Materialien stellt ihm seine Partei in Rechnung: vom Flyer (20.000 Exemplare: 687,58 Euro) bis zu den Plakaten (300 Auflage: 1.497 Euro). Die 7.000 Euro, mit denen die SPD jeden ihrer Direktkandidaten unterstützt, sind schnell verbraucht. Dabei verzichtet Stader auf die teuren Großflächenplakate (404 Euro pro Tafel). „Und Kugelschreiber gibt es bei mir auch nicht“, sagt er. 100 Stück kosten 24,85 Euro. Seine Fahrtkosten muss er ohnehin selber tragen.

In ein paar Tagen wird Stader sechzig Jahre alt. „Ich will den Menschen hier ein Angebot machen“, sagt er. „Mein großer Vorteil ist, dass ich ein gelebtes Leben hinter mir habe.“ Da braucht er nicht mehr an die Karriere zu denken; Minister oder Staatssekretär wird er ohnehin nicht mehr. „Also kann ich mich ganz auf meinem Wahlkreis konzentrieren und muss auch keine falschen Rücksichten nehmen.“

Das würde ihn im Falle seiner Wahl von so manch anderem Abgeordneten auch aus der eigenen Partei unterscheiden.

Abitur auf dem Abendgymnasium

Eingetreten in die SPD ist Stader 1989 während seines Studiums. Dass er überhaupt studieren konnte, war keine Selbstverständlichkeit. Aus „einfachen Verhältnissen“ stammend, ging er zunächst nur mit einem Hauptschulabschluss von der Schule ab und absolvierte eine Lehre als Elektroinstallateur. Auf einem Abendgymnasium machte er schließlich das Abitur nach.

Ab 1983 studierte er in Bonn und Duisburg unter anderem Katholische Theologie und Philosophie. Und in beiden Hochschulen war er für die Juso-Hochschulgruppe im AStA aktiv. Nebenbei jobbte er als studentischer Mitarbeiter im Bundestag in Bonn. Vor 50 Jahren hätte er in der SPD vielleicht als Elektroinstallateur Karriere gemacht. Ohne Hochschulabschluss blieb er im Heer der Zuarbeiter stecken.

Seine Aussichten, demnächst im Bundestag nicht mehr im Maschinenraum, sondern an Deck zu arbeiten, stehen nicht all zu gut. Auf der SPD-Landesliste in Sachsen-Anhalt steht Stader auf dem letzten Platz. Dass er das Direktmandat holt, wäre eine Sensation.

Sozialdemokratisches Siechtum

Dabei war sein Wahlkreis nicht immer eine schwarze Hochburg. Von 1998 an gelang es dem Sozialdemokraten Engelbert Wistuba immerhin dreimal hintereinander, gegen seinen CDU-Konkurrenten Ulrich Petzold zu gewinnen.

Doch 2009 holte sich Petzold das Direktmandat von Wistuba zurück – und die SPD landete mit weniger als 20 Prozent nur auf dem dritten Platz, mit deutlichem Abstand noch hinter der Linkspartei. So ist es bis heute geblieben.

Nun geht Lokalmatador Petzold in den Ruhestand. Für die CDU tritt diesmal der 28-jährige Newcomer Sepp Müller an (Motto: „Familie, Heimat und Ehrlichkeit“). „Das war für mich die Voraussetzung“, sagt Stader. „Gegen einen Abgeordneten mit Platzhirsch-Bonus wäre ich nicht angetreten, weil das völlig aussichtslos gewesen wäre.“

Wenigstens die Hoffnung auf eine Chance wollte er sich bewahren. „Diesmal werden die Karten neu gemischt“, gibt sich Stader unerschüttert optimistisch.

Hausgemachte Misere

Vielleicht geschieht ja ein Wunder. Gut möglich ist allerdings auch, dass er am 24. September nur auf dem vierten Platz landet – so wie seine Partei mit nur noch knapp über 10 Prozent bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr.

Das Direktmandat in Dessau-Roßlau gewann damals der AfD-Mann Andreas Mrosek. Jetzt kandidiert der frühere CDU-Stadtrat für den Bundestag. Noch ein Konkurrent.

Die sozialdemokratische Misere hält Stader in weiten Teilen für hausgemacht. „Die SPD hat viele Fehler gemacht, auf allen Ebenen: von der Orts- über die Landes- bis zur Bundesebene“, sagt er. Politik lebt von Glaubwürdigkeit, genau das ist das Problem, weiß er. „Wenn man mehrfach von jemanden enttäuscht worden ist, dann ist Vertrauen zerstört.“

Kandidat Stefan Stader steht lächelnd im Vordergrund. Im Hintergrund Männer mit Mützen und Fischerhemden

Trotz allem gut gelaunt: Stefan Stader auf dem Roßlauer Heimat- und Schifferfest Foto: Pascal Beucker

Besonders die Arbeitsmarktreformen während der Schröder-Ära nehmen viele Menschen gerade im Osten der SPD immer noch sehr übel, das erfährt er immer wieder. „Da haben wir große Fehler gemacht, die fatale Folgen hatten.“ Stader will nichts schönreden.

Verflogener Schulz-Hype

Anfang des Jahres witterte er kurzzeitig Morgenluft. Das Umfragehoch nach der überraschenden Kanzlerkandidatur von Martin Schulz ließ sogar die Genossen in Sachsen-Anhalt für ein paar Wochen träumen. „Da hat sich gezeigt, was möglich ist“, sagt Stader. Doch der Schulz-Hype ist längst verflogen. Die sozialdemokratische Tristesse ist zurückgekehrt.

„Das ist nicht gut gelaufen“, sagt Stader. „Martin Schulz hat stark angefangen, aber so hätte er auch weitermachen müssen.“ Die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, wäre genau richtig gewesen, ist Stader überzeugt. „Aber daraus hätte mehr folgen müssen.“ Von Schulz hätte er sich „viel mehr Mut gewünscht“. Er zählt auf: die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, einen altersicheren Mindestlohn, die Abschaffung der Riesterrente.

„Der Hauptknackpunkt ist allerdings, dass von uns mehr kommen muss als das Arbeitslosengeld Q“, sagt er mit Blick auf das von Andrea Nahles vorgelegte Modell, den Bezug des Arbeitslosengeldes um bis zu zwei Jahre zu verlängern, wenn Erwerbslose sich weiterbilden. Denn das verzögere zwar, behebe jedoch nicht das Grundproblem: dass ein Arbeitnehmer nach kurzer Zeit Erwerbslosigkeit in Hartz IV fällt.

„Wenn wir die Menschen zurückgewinnen wollen, müssen wir ihnen die Sicherheit für ihr Leben zurückgeben“, ist Stader überzeugt. „Halbherzige Schritte sind da nicht genug.“

Auch die permanente Abgrenzung der SPD-Spitze von Rot-Rot-Grün kann er nicht nachvollziehen. „Wenn die Menschen nicht erkennen, dass wir wirklich etwas Anderes wollen als nur eine Fortsetzung der Großen Koalition, dann werden sie uns auch nicht wählen.“ Es ärgert ihn, dass seine Partei „immer so kleinmütig ist“.

Selbstgebackener Kuchen

Trotz seiner kritischen Haltung zur SPD-Regierungspolitik hat sich Stader zur Unterstützung Parteiprominenz in die ostdeutsche Provinz geholt: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles war schon da, mehrere Bundestagsabgeordnete ebenso. Der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering steht am 12. September auf dem Programm.

Der Kandidat kämpft. Wenn irgendetwas in der Lutherstadt Wittenberg, in Dessau-Roßlau, in Wörlitz oder den anderen Ortschaften seines Wahlkreises los ist, ist er dabei – vom Heide- und dem Bauhausfest über ein Marktplatzpicknick bis zum „musikalischen Gondelcorso zu Ehren des 200. Todestages des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau“.

Selbstverständlich hat Stader auch schon dem Seniorenkaffee der AWO in Wittenberg seinen Besuch abgestattet. Auf Postkarten bietet er an, auch zu Hause vorbeizukommen: „Den Kuchen backe ich … kochen Sie für uns Kaffee?“ Rund ein Dutzend Menschen haben ihn inzwischen zu sich eingeladen.

Geliehenes Auto

Beim Gang über das Roßlauer Heimat- und Schifferfest wird Stader immer wieder freundlich, von einigen herzlich begrüßt. Man kennt ihn inzwischen. Auch mit der CDU-Ortsvorsteherin und dem FDP-Oberbürgermeister hält er einen Plausch.

Für den Wahlkampfendspurt hat sich Stader das Auto eines alten Aachener Freundes geliehen. Wenn es abends zu spät wird, um die rund 120 Kilometer zurück nach Berlin-Wilmersdorf zu seinen beiden Katzen Willy und Krümel zu fahren, übernachtet er bei Genossen.

Ob er seine Kandidatur bereut? „Die Erfahrung, die ich jetzt in meinem Alter mache, die kann mir niemand mehr nehmen“, sagt Stefan Maria Stader. „Egal, wie die Wahl ausgeht.“

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