Cancel Culture beim Toronto-Filmfestival: Kleingeistige Banalität von Bürokraten
Auf dem Toronto-Festival sollte die Doku „The Road Between Us“ nicht laufen. Erst nach Protesten entschied die Leitung, den Film wieder aufzunehmen.

V or Kurzem hatte das Toronto Filmfestival den israelischen Dokumentarfilm „The Road Between Us“ aus dem Programm genommen. Dass israelische Beiträge boykottiert werden, ist nicht neu. In der selbsternannten progressiven Kunstszene gilt Zensur inzwischen als höchste Form der Meinungsfreiheit. Diesmal traf es Barry Avrichs Film, der die Gräuel des 7. Oktober 2023 ungefiltert zeigt. Die Täter hatten voller Stolz ihre Verbrechen selbst dokumentiert: Vergewaltigungen, Enthauptungen, lebendig verbrannte Menschen, verstümmelte Leichen.
Die Entscheidung, Avrichs Film zu zensieren, traf Cameron Bailey, einen der mächtigsten Kulturmanager Kanadas. Offizielle Begründung: Die Freigabe der Hamas-Livestreams fehlte. Man staune: Die Produzenten hatten tatsächlich versäumt, bei den Terroristen höflich um Erlaubnis zu bitten, ihre Snuff-Videos zu verwenden. Aus Angst vor dem Furor jener, die Palästinenser als ewige Opfer verklären und sich über jede abweichende Darstellung empören, zog er sich hinter den Schutzschild der Bürokratie zurück. Diese kleingeistige Entscheidung verkörpert die Banalität des Bürokraten: Paragrafen wiegen schwerer als Empathie. Sein Opportunismus atmet den Zeitgeist: Palästina „from the river to the sea“ ist schwer in. Die Ironie? Gerade seine vorgetäuschte Neutralität entlarvt seine Parteinahme.
ist Psychologe, Coach und Co-Autor von „Der blinde Fleck – Die vererbten Traumata des Krieges“, gemeinsam mit Stephan Lebert (Heyne Verlag).
Denkt man das Absurde zu Ende, dann müsste ein Gericht einen Vergewaltiger erst um die Freigabe seiner Handyaufnahmen bitten, bevor sie als Beweismittel gelten. Oder: Ein Priester missbraucht die ihm unterstellten Kinder? Er möge doch bitte in Gottes Namen seine Tagebuchnotizen zur Verfügung stellen. Spätestens seit dem Toronto-Eklat wissen wir: In der Kunstszene zählen Beweise erst, wenn der Täter sie freigibt.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Zu guter Letzt kam der Film – nach heftigen Protesten – zurück ins Programm, er sollte also irgendwann zwischen dem 4. und 14. September auf dem Festival laufen. Doch die Freigabe des Massakers musste warten, bis die Paragrafen sortiert waren. Wie abgedreht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Straße wird umbenannt
Berlin streicht endlich das M-Wort
Buchmarkt
Wer kann sich das Lesen leisten?
Mikrofeminismus
Was tun gegen halbnackte Biker?
Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen
Chefarzt muss seinem Arbeitgeber gehorchen
Gewalt bei Protesten in Serbien
Auf dem Weg in die serbische Diktatur