Cannes Cannes: Augenblicke der Transzendenz

Filme, die Übersinnliches in Szene setzen wollen, stürzen leicht ab. Davor ist auch Lars von Trier nicht geschützt. Seine Bilder geraten zu bombastisch oder zu banal.

Das Streben nach Transzendenz kippt schnell ins Banale. So auch in Triers "Melancholia". Bild: rtr

Zu den Gaben des Kinos gehört es, in Bereiche vorzustoßen, die weit jenseits von Rationalität und Realismus liegen. Wenn etwa die Hauptfigur in Carl Theodor Dreyers "Ordet" (1955) am Ende des Films von ihrem Totenbett aufersteht, wird noch der größte Skeptiker für die Dauer dieser Sequenz sicher sein, dass sich der Tod überwinden lässt. Es ist ein Augenblick der Transzendenz, und er ist als Kinoerfahrung umso großartiger, je weniger man normalerweise bereit ist, an Übersinnliches zu glauben.

Kein Wunder also, dass das Festival von Cannes nach solchen Augenblicken strebt, zählen sie doch zum Waghalsigsten und Aufregendsten, was man im Kino erleben kann. Und in diesem Jahr gehen besonders viele Filme das Wagnis ein: Terrence Malicks "The Tree of Life" glitt durch kosmische Ursuppe, Jeff Nichols "Take Shelter" ließ apokalyptische Winde wehen; in Bruno Dumonts "Hors Satan" ("Un certain regard") wiederum bleibt in der Schwebe, ob der Protagonist, ein Mann ohne Namen (David Dewaele), Teufelsaustreiber oder der Leibhaftige höchstselbst ist.

Und in Lars von Triers Wettbewerbsbeitrag "Melancholia" wächst sich die Depression der Hauptfigur Justine (Kirsten Dunst) zum Weltuntergang aus. Das Bilderrepertoire der Apokalypse freilich ist begrenzt: Sowohl bei Nichols als auch bei von Trier fallen tote Vögel vom Himmel, um auf das dräuende Unheil hinzuweisen.

Und so wie die Vögel vom Himmel fallen, so stürzen auch Filme, die Übersinnliches in Szene setzen wollen, leicht ab. Nichts kippt so schnell ins Banale wie das Streben nach Transzendenz. In "Melancholia" wird diese Gefahr - ganz selbstreflexiv - an einer Stelle zum Thema gemacht. Die erste Hälfte des Filmes beschäftigt sich ausgiebig mit einer aus der Bahn laufenden Hochzeitsfeier auf einem herrschaftlichen Landsitz.

Das Fest ist schon recht weit fortgeschritten, als der von Udo Kier gespielte Organisator der Hochzeit eines der typischen Hochzeitsspiele beenden will. In einer Flasche waren Bohnen, die Feiernden sollten erraten, wie viele. "678 Bohnen" seien es, sagt die von Kier gespielte Figur. "Das ist ja unglaublich", entgegnet Claire (Charlotte Gainsbourg), Herrin des Anwesens und Schwester der Braut Justine, und ergänzt: "… unglaublich banal." Etwa eine Filmstunde später kennt dann Justine die genaue Anzahl der Bohnen, ohne dass sie vom Ergebnis der Auszählung erfahren hätte.

Hässlich anzusehender Sex

Eine seherische Gabe soll sich da artikulieren, mithin das Gegenteil von etwas Banalem, doch das scharfe, knappe Urteil Claires ist deshalb nicht verschwunden. Es markiert das Dilemma von "Melancholia". Die Bilder füllen nicht, was der Regisseur uns zu glauben aufgibt; sie gewähren keine Grundlage für die supension of disbelief, die bei Dreyer so überzeugend funktioniert; sie sind entweder zu bombastisch oder zu banal, als dass man sich auf von Triers Weltuntergangsfantasie einlassen wollte.

Das Präludium von "Melancholia" malt diese Fantasie in Zeitlupe aus: Ein prächtiger Rappe versinkt im sumpfig gewordenen Gras eines Golfplatzes, um Kirsten Dunsts Beine winden sich Schlingpflanzen, von der Tonspur dröhnen dazu Wagners Geigen. Als Modestrecke in der Vogue wäre das große Klasse.

Bruno Dumonts "Hors Satan" begibt sich auf die Spur des Teufels; seine Inszenierung setzt nicht auf Budenzauber, sondern darauf, die nordfranzösische Opalküste mit ihrem Marschland, ihren Tümpeln, Schilfflächen, Wäldern und Dünen in klaren Einstellungen zu erfassen und den Figuren, einer namenlosen Frau und einem namenlosen Mann, auf ihren Wegen durch diese Landschaft zuzuschauen.

Gerade weil Dumonts Blick für das sinnlich Wahrnehmbare so scharf ist, möchte man ihm ins Übersinnliche folgen. Kippen kann freilich auch "Hors Satan": Wenn der namenlose Mann mit einer Vagabundin recht hässlich anzusehenden Sex im Schilf hat und der Frau plötzlich Schaum vor dem Mund steht, ists mit meiner suspension of disbelief schlagartig vorbei.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.