Cannes-Siegerfilm „Shoplifters“ im Kino: Familie ist, wozu man sich entscheidet

Regisseur Hirokazu Koreeda vermisst in seinem Cannes-Siegerfilm „Shoplifters“ die Grenzen der Familie auf zärtlich-unnachgiebige Art.

Drei Erwachsene und zwei Kinder fassen sich am Strand bei den Händen.

Für diese Familie heißt es bald schon Abschied nehmen im Film „Shoplifters“ Foto: Wild Bunch Germany

Die Szene kann einen zum Weinen bringen. Da sitzen ein kleines Mädchen und eine Frau auf der Terrasse ihres Hauses, vor ihnen brennt ein Feuer. Die Frau sagt zum Mädchen: „Wenn man jemanden liebt, schlägt man ihn nicht. Wenn man ihn liebt, nimmt man ihn in den Arm.“ Dabei hält sie das Mädchen wie eine Mutter ihr Kind.

Die Zuschauer wissen zu diesem Zeitpunkt: Diese Frau, Nobuyo (Sakura Andô), ist nicht die Mutter. Und das Kind, Juri (Miyu Sasaki), ist von seinen leiblichen Eltern geschlagen worden. Bei denen sie jetzt nicht mehr lebt. Denn Nobuyos Mann hat Juri aufgelesen, als sie im Winter bei Kälte draußen auf dem Balkon der elterlichen Wohnung saß. Wohl weil sie drinnen störte.

Was an der Idylle der Szene auch nicht stimmt, ist der Flammenschein. Denn in der kleinen Feuertonne brennen keine gemütlichen Holzscheite, sondern ein auffällig roter Pullover mit weißen Punkten. Den hatte Juri getragen, als sie in die neue Familie wechselte. Der Kindesraub, wie dieser Vorgang aus juristischer Sicht zu nennen ist, soll mit dem Verbrennen kaschiert werden. Zuvor hatte Juri schon einen neuen Haarschnitt verpasst bekommen, der ihr ganz vorzüglich steht, mit dem sie aber in erster Linie weniger leicht zu erkennen ist.

Der Japaner Hirokazu Koreeda wollte eigentlich keine Familienfilme mehr machen. Jetzt hat er dennoch „Shoplifters“ gedreht, was einerseits ein Familienfilm ist und andererseits ein großes Glück. Im Mai hatte der Regisseur damit im Wettbewerb von Cannes die Goldene Palme gewonnen, ab heute kann man sich hierzulande im Kino überzeugen – von der Richtigkeit der Entscheidung Koreedas, diesen Film zu machen, und der der Jury in Cannes, ihn dafür auszuzeichnen.

„Shoplifters“. Regie: Hirokazu Koreeda. Mit Lily Franky, Sakura Andô u. a. Japan 2018, 121 Min.

„Shoplifters“ ist durchzogen von einer gegenstrebigen Bewegung. Denn er erzählt zunächst einmal von Verbrechern, von Ladendieben, wie es im Titel heißt. Gleich zu Beginn sieht man den Sohn der Familie Shibata, Shota (Kairi Jyo), wie er reglos in einem Supermarkt steht, sich umsieht. Dann lässt er, wie in einem Spiel, die Zeigefinger seiner verschränkten Hände kreisen, führt eine lockere Faust an die Stirn und setzt sich in Bewegung.

Eine gemeinsame Choreografie

Ein Mann, Osamu (Lily Franky), der sich später als Shotas Vater zu erkennen gibt, unterstützt ihn beim Klauen. Sie verständigen sich durch Zeichensprache, vollführen eine gemeinsame Choreografie, umkreisen einander, wobei sich der Ältere stets im richtigen Moment ins Blickfeld der Angestellten des Geschäfts stellt, damit diese nicht sehen, wie Shota nach und nach verschiedene Artikel in seiner ­Tasche verschwinden lässt. Im Verlauf des Films erfährt man: Auch die übrigen Mitglieder dieser Familien treiben, auf die eine oder andere Art, windige Geschäfte.

Die jungen Schauspiele­­­­r_innen leisten Unglaubliches

Gegen diesen kriminalistischen Zug der Handlung steht, als sozialer Mikrokosmos, die Geschichte der Familie Shibata, einer ziemlich am Rand der Gesellschaft angesiedelten Gemeinschaft. Deren gemeinsames Haus gleicht mehr einer Hütte als einer Wohnung; in ihr müssen fünf, später dann, mit Juri, sogar sechs Personen leben. Dass die Familie arm ist, ist einer der Gründe dafür, dass sie auf so engem Raum leben. Spannungen halten sich dennoch in Grenzen, man geht fürsorglich, ja liebevoll miteinander um.

Zugleich streut Koreeda von Anfang an Spuren, die andeuten, dass mit dieser Familie etwas sehr anders ist als bei anderen. Von Aki (Mayu Matsuoka), der Schwester Nobuyos, die ihr Geld unter anderem Namen in einer Peepshow verdient und die irgendwann als „Halbschwester“ eingeführt wird, über die Oma (Kirin Kiki), von der die Eltern Osamu und Nobuyo bloß als der „Alten“ sprechen, bis hin zum Jungen Shota, der seine Fertigkeiten im bargeldlosen Einkauf von Osamu erlernte und sich beharrlich weigert, diesen „Papa“ zu nennen.

Was Menschen außer Geld brauchen

Ganz allmählich gibt Koreeda den Verwandtschaftsverhältnissen der Shibatas klarere Konturen, bis sie schließlich sehr unsanft aufgeklärt werden. Doch auch wenn einige Figuren ihre unheimlichen Züge haben, sind sie in ihrer Zerrissenheit zwischen wirtschaftlicher Not und einem intuitiven Gespür für das, was Menschen außer Geld brauchen, so warm gezeichnet, dass sie auf ihre Art, bei aller Verschlagenheit, für sich einnehmen. Was besonders in den Begegnungen mit anderen deutlich wird, etwa wenn die Oma die Familie ihres verstorbenen Mannes besucht. Dort empfängt man sie höflich, aber kühl, weil man mit der „ersten Frau des Vaters“ nichts anzufangen weiß.

Die Kamera ist in „Shoplifters“ oft sehr nah an den Figuren, erzeugt den Eindruck von Unmittelbarkeit und nimmt gern die bodennahe Perspektive der Kinder ein, die, wie Koreeda schon in früheren Filmen wie „Nobody Knows“ von 2004 gezeigt hat, Unglaubliches leisten. Das gilt allemal für Kairi Jyo in der Rolle des schweigsamen Shota, der Skrupel hat, seine neue „Schwester“ bei seinen Raubzügen hinzuzuziehen, aber fast noch mehr für Miyu Sasaki als Juri, mit ihrem ernst-gefassten Gesichtsausdruck ohne Lächeln, die allein durch ihre stumme Art zu nicken komplett entwaffnend ist. Und deren Spiel, auch das kann Koreeda einfach, zwar anrührend wirkt, jedoch nie ins Rührselige abgleitet.

Rührselig wird es auch ansonsten nicht. Stattdessen zeigt Koreeda eine unnachgiebige Härte beim Offenlegen der wirtschaftlichen Determiniertheit dieser Hausgemeinschaft. Als irgendwann die Oma stirbt, freuen sich die Eltern ausgelassen über deren finanzielle Hinterlassenschaften. Sehr zum Befremden des Jungen Shota. Die Oma hatte zuvor in einer Szene am Strand gesessen, ihre Beine betrachtet, und leise vor sich hin gesagt: „So viele Altersflecken.“ Eine bittere Note daran: Die Darstellerin Kirin Kiki, die in mehreren Filmen Koreedas mitgespielt hat, ist am 15. September mit 75 Jahren nach einer langen Krankheit gestorben.

Nahbar-fremde Figuren

Kirin Kikis darstellerische Leistung ist denen der Kinder mindestens ebenbürtig. Allerdings ist es am Ende das Zusammenspiel dieses Ensembles mit seinen so unterschiedlich nahbar-fremden Figuren, das diesen Film so selbstverständlich schön, traurig und schrecklich macht. Das Zarte und das Harte reflektiert zugleich die Filmmusik Haruomi Hosonos, der Klänge zwischen sanftem Jazz und sperriger Elektronik zusammenführt, die die innere Spannung des Geschehens auch in der Tonspur aufrechterhalten.

Familie ist am Ende, so Koreedas Plädoyer, wozu man sich entscheidet. Selbst wenn diese auf einer Konstruktion beruht, die nicht unbegrenzt lebensfähig ist. Zumindest wird den einzelnen „Angehörigen“ die Erinnerung an eine Zeit bleiben, in der sie sich hatten, in der jemand für einen da war, nicht weil es so ist, sondern weil man es so wollte.

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