Chamisso-Preisträger über Sprache: „Das Fehlen beschreibt, was ich bin“

Senthuran Varatharajah erhält für sein Debüt den Chamisso-Förderpreis. Ein Gespräch über Identität, Haftbefehl und einen Heilsbringer.

Senthuran Varatharajah

Senthuran Varatharajah Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ erschien im Frühjahr 2016 Foto: Heike Steinweg/S.Fischer

taz: Herr Varatharajah, in Ihrem Roman beschreiben Sie ein Aufwachsen mit „Aktenzeichen XY“ und „Stadt, Land, Fluss“ – eine typisch deutsche Geschichte. Warum sprechen Sie für Ihre Protagonisten trotzdem nicht von einer deutschen Identität?

Senthuran Varatharajah: „Typisch deutsche Geschichte“ – ich glaube, in diesem Zusammenhang höre ich diese Formulierung zum ersten Mal. Die Erfahrungen, die im Roman beschrieben werden, werden manchmal als Blicke „von außen“ interpretiert – weil Senthil und Valmira, die Protagonisten, mit ihren Familien Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre als Flüchtlinge in dieses Land gekommen waren. Ich frage mich, welches „Außen“ damit gemeint ist. Senthil war bei seiner Ankunft vier Monate alt, so wie ich auch. Ich lebe seit fast 33 Jahren hier. Die ersten sieben Jahre haben wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen verbracht – das ist eine sehr deutsche Geschichte. Von deutscher Identität spreche ich dennoch nicht. Auch weil ich nicht weiß, was damit gemeint sein soll.

Sie haben mal gesagt, Identität sei ein Begriff, der eine „ziemlich coole Leerstelle“ in Ihrem Leben markiere.

Der Begriff der Identität hat für mich allenfalls philosophiehistorische Bedeutung, wie etwa in der klassischen deutschen Philosophie. Ich bezeichne mich weder als Deutscher noch als Tamile, auch nicht als Deutschtamile. Dieses Fehlen eines Begriffs beschreibt, was ich bin. Und es entspricht der Sprachlosigkeit, aus der heraus geschrieben wird.

Sprachlosigkeit?

Wenn jemandem die Sprache, die er spricht, immer wieder genommen, sie ihm abgesprochen wird, wenn das Sprechen dieser Sprache zu Irritationen wie dem Hinweis „Sie sprechen aber gut Deutsch“ führt, dann kann man nur aus einer Sprachlosigkeit heraus sprechen. Seit der Veröffentlichung des Romans ist ein Jahr vergangen. Ich werde immer noch von Journalistinnen und Journalisten, die ihn gelesen haben, auf Englisch angesprochen – weil sich dunkle Haut und fließendes Deutsch, dunkle Haut und anspruchsvolle Literatur für sie ausschließen.

Deutsch ist die Sprache, in der Sie sich heimisch fühlen?

In einem Interview wurde ich einmal gefragt, was meine Muttersprache sei. Meine Antwort war: Wenn es eine gäbe, dann Deutsch. Die Journalistin widersprach mir vehement. Sie sagte, das sei nicht möglich, Tamil müsse meine Muttersprache sein, denn die Muttersprache sei die Sprache, „in der man Kinderlieder gehört“ habe. Ich kenne nur deutsche Kinderlieder, nicht ein tamilisches. Das Blut wurde in dieser Argumentation durch Muttermilch ersetzt. Das Abstammungsprinzip aber bleibt erhalten.

Am 9. März wird in München der Adelbert-von-Chamisso-Preis vergeben. Senthuran Varatharajah erhält – ebenso wie Barbi Marković – den Förderpreis für „Vor der Zunahme der Zeichen“ (Fischer 2015). Der Hauptpreis geht an Abbas Khider. Am 10. März um 20 Uhr liest Varatharajah im Literaturhaus München

Inwieweit bezieht sich auch Ihre Sprachkritik auf den Begriff der Identität?

Für mich bedeutet schreiben, jede Identität zu zerstören, so, wie auch Sprache zerstört werden muss. Wenn es nicht mehr diese eine richtige Sprache gibt – die, die wir in der Schule und in der alltäglichen Kommunikation lernen, oder die, die uns zugestanden und von uns erwartet wird –, dann könnten vielleicht jene Stimmen gehört werden, deren Artikulation im öffentlichen Diskurs derzeit nicht möglich ist. Und wenn es keine richtige Sprache mehr gibt, dann könnte gesprochen werden, auf jede erdenkliche und unerdenkliche Weise. Kennen Sie den Rapper Haftbefehl?

Klar.

In „Kanackiş“ von Haftbefehl heißt es: „Das ist kein Deutsch, was ich mache, ist Kanackiş.“ Darum ging es mir in meinem ersten Roman: Eine neue Sprache zu finden; eine, die angemessen ist für das, was meine Erfahrung sein könnte. Das ist auch der Grund, weshalb ich versuche, Prosa wie Lyrik zu schreiben, weil Lyrik tatsächlich Sprache zerstört, allein formal. Blanchot sagt, Prosa sei die durchgehaltene Linie, Lyrik ihre Unterbrechung. Sie unterbricht die Sprache. Und wenn sie unterbrochen ist, sehen wir sie anders, sehen ihr Zögern und Zerbrechen. Im literarischen Diskurs wird das Sprechen über Identität vom Begriff der Authentizität bestimmt: Wenn jemand mit Migrationsgeschichte von einer Person mit Migrationsgeschichte erzählt und dieser Person eine Sprache gibt, die genau dem entspricht, wie Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker, Leserinnen und Leser glauben, dass „diese Menschen“ sprechen, verkürzte Syntax, rotzig, derb – dann gilt diese Sprache als authentisch. Authentizität als literarisches Kriterium – und dass sie ein Kriterium ist, sagt genug über die Qualität dieses Diskurses – ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment.

Am Donnerstag wird in München der Adelbert-von-Chamisso-Preis vergeben. Senthuran Varatharajah erhält – ebenso wie Barbi Marković – den Förderpreis für „Vor der Zunahme der Zeichen“ (Fischer 2015). Der Hauptpreis geht an Abbas Khider. Freitagabend um 20 Uhr liest Varatharajah im Literaturhaus München.

Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um Sprache und Identität zu zerstören: Der Begriff der Identität wird derzeit von links wie von rechts ins­tru­mentalisiert.

Diese Formen der Essenzialisierung, die einfache von rechts und die strategische von links, sind nicht gleichzusetzen. Von links gesprochen: Statt Kategorien der Diskriminierung zu wenden und als Mittel einer sogenannten Selbstermächtigung zu nutzen, versuche ich mich von diesen Kategorien zu lösen. Begriffe wie „People of Color“ zum Beispiel suggerieren eine Solidarität, die in der Ähnlichkeit von Diskriminierungserfahrungen begründet sein soll. An diese Solidarität glaube ich nicht.

Warum nicht?

Ein Beispiel: Meine Freundin und ich sind vor neun Jahren von Kreuzberg in den Wedding gezogen. Wir dachten, uns, uns als Ausländern würde dort nichts passieren – meine Freundin ist Kurdin, Alevitin, in der Türkei geboren. Bis unsere Nachbarn, Deutschtürken, wie manche sagen würden, herausgefunden haben, dass sie aus der Türkei kommt und mit mir, einem Nichttürken und einem nichtmuslimischen Mann zusammenlebt – sie sind davon ausgegangen, sie sei Muslima. Danach wurde mehrmals vor unsere Tür uriniert, unsere Post abgefangen, unser Namens- und Klingelschild immer wieder abgerissen und bei Otto Tommy-Hilfiger-Klamotten bestellt – auf den Namen „Maymun Varatharajah“. Maymun ist das türkische Wort für Affe.

Haben Sie die Debatte um „Cultural Appropriation“ verfolgt? Lionel Shriver hat dagegen argumentiert: Es gehöre zum Wesen von Literatur, sich in andere Subjekte hineinzuversetzen und etwa als Weiße aus Perspektive einer Schwarzen zu schreiben. Das werde nun von Political Correctness infrage gestellt.

Zu behaupten, Kunst sei ein Raum, der frei von Politischem wäre, ist etwas naiv – um das Mindeste zu sagen. Jemand, der schreibt, sollte sich nicht der intellektuellen Aufgabe entledigen wollen, den gegenwärtigen ästhetischen und politischen Stand zu reflektieren. Das gehört zum Handwerk des Schreibens. Es ist also, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, sicherlich möglich, als Weiße aus der Perspektive einer Schwarzen zu schreiben, entscheidend ist nur, wie. Ich finde die Klage, heute gäbe es so viele Verbote, zumal Sprechverbote, irritierend bis amüsant. Political Correctness heißt eigentlich nur: „Sei kein Arschloch.“ Höre Menschen zu, nimm sie ernst, begegne ihnen mit Anstand und Respekt.

Kann man bei Autorinnen und Autoren wie Ihnen, Abbas Khider oder Shida Bazyar von einer neuen Generation der Mi­grantenliteratur sprechen?

Im Zusammenhang mit meinem Roman höre ich diesen Begriff zum ersten Mal. Das qualitativ Neue, das sich im vergangenen Jahr ereignete, ist dies: Bücher über Migration wurden bis vor Kurzem vor allem von weißen Schriftstellerinnen und Schriftstellern veröffentlicht, die selbst oder deren Familien aus Osteuropa gekommen waren. Jetzt gibt es eine signifikante Anzahl nichtweißer Autorinnen und Autoren, deren Bücher bei großen Publikumsverlagen erscheinen und die zum Beispiel von transkontinentalen Flucht- und Migrationsbewegungen erzählen. Dass Autorinnen wie Shida Bazyar, Rasha Khayat, Sharon Dodua Otoo, Autoren wie Abbas Khider, Pierre Jarawan oder ich im Literaturbetrieb sprechen, ändert nicht nur das Gesicht der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, sondern – durch unsere bloße physische Präsenz, durch unsere Namen – auch die politische Landschaft: das literarische Selbstverständnis dieses Landes, und auch das dieser Sprache.

In Ihrem Roman gibt es eine zentrale Stelle, wo von dem semantischen Unterschied von „Papier“ und „Papieren“ die Rede ist. Der Begriff Identität ist in den Geisteswissenschaften zu einem Modebegriff geworden, nachdem die Personalausweise – in Frankreich „Carte d'Identité“ – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden. Was sagen unsere „Papiere“ heute über den Identitätsbegriff?

Dass es keinen Raum für eine oder mehrere größere und kleinere Erzählungen geben kann, keine Ambivalenzen in dem, was wir sind. Ich muss meine Biografie auf einer Karte vorlegen können, die gültig oder ungültig ist. Das ist mein Name. Das ist mein Geburtsdatum. Das ist mein Geburtsort. Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, sage ich: ich komme aus vielen Orten.

Um den Populismus von rechts einzudämmen, heißt es derzeit oft, man müsse die unteren Schichten wieder erreichen. Welche Erzählung von Identität ist es denn, die diese Schicht ersehnt?

Ich glaube nicht, dass das eine Frage der Schicht ist, diese Affinität zum Populistischen. Diese Menschen aus unteren Schichten fordern mit denen aus der Mittel- und Oberschicht dasselbe: einen rein deutschen Volkskörper, für den ich zum Beispiel ein Fremdkörper wäre. Sie glauben, die wenigen Privilegien, die sie nicht besitzen, könnten ihnen genommen werden. Das ist nichts Neues, und auch keine neue Beobachtung. Es gibt allerdings genauso viele Weiße, aus jeder Schicht, die diese Entwicklung mit Angst erfüllt, so, wie es auch genug Nichtweiße gibt, die sich vor der Ankunft von Geflüchteten fürchten.

Die politische Landschaft ist auch vom Erstarken der Populisten geprägt. Sehen Sie derzeit neue Allianzen gegen die rechten Populisten?

Ich sehe vor allem: Martin Schulz. Aktuellen Umfragen zufolge verliert die AfD erheblich Stimmen, und das ist auch sein Verdienst. Schulz macht für mich – und für viele meiner Freundinnen und Freunde – die SPD zum ersten Mal seit Langem wieder wählbar. Seit ich wählen kann, wähle ich die Grünen, ohne Überzeugung, ohne Erwartung – aus Alternativlosigkeit gewissermaßen. Auch Schulz werde ich ohne Überzeugung wählen, aber mit der Aussicht auf Veränderung, auch wenn sie nur darin bestehen sollte, den Einzug der AfD zu verhindern. Das ist ein Unterschied. Ein entscheidender.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.