„Chaostage“ als Theaterstück: Dosenbier und Schokolade

Hannover, Stadt des Punk, zumindest aber die der Chaostage. Was davon heute noch übrig ist, erkundet jetzt das dortige Staatstheater: „Chaostage – Der Ausverkauf geht weiter!“

So-tun-als-ob und verfremdete Punk-Gesten: „Chaostage – Der Ausverkauf geht weiter“. Foto: Katrin Ribbe/dpa

HANNOVER taz | Punk ist erst mal – anders. Als Popmusik immer komplizierter, die politische Debatte immer verschwurbelter, Jugendkultur immer älter und de normative Kraft des sozialdemokratisch muffigen Konsens-Alltags immer mächtiger wurde, loderte diese Bürgerschreck-Bewegung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre so kurz wie heftig auf. War laut, lustig, unwiderstehlich jung und individuell, erst später kamen Uniformierung und Klischee, kam der Dosenbier trinkende Hundehalter, so lange in Fußgängerzonen herumlungernd, bis endlich wieder Chaostage sind: Auf nach Hannover, dem zeitweise jährlichen Abenteuerspielplatz.

Warum das Krawall-Event ausgerechnet „in dieser Stadt der Mitte und des Maßes stattfand“, das interessierte die Theatermacherin Ulrike Günther, zugereist und mit 28 zu jung für ausführliche eigene Chaostage-Erfahrung. Sie recherchierte drauflos, sprach mit Beteiligten der diskontinuierlich zwischen 1983 und 2006 stattfindenden Randale-Partys, interviewte aber auch heutige Punks, Polizisten und Erforscher von Protestkulturen, besuchte mit den Schauspielern des Staatstheaters sogar ein Slime-Konzert. Die bei alldem gesammelten Worte und Erlebnisse strich sie zusammen, bis sie den Nukleus des Punk meinte, freigelegt zu haben für eine Lebensgefühl ausstellende Bühnenfassung: „Chaostage – der Ausverkauf geht weiter!“

Trommeln und Rülpsen

Drei Tribünen sind um ein Dreieckspodium arrangiert. Ein Schlagzeuger poltert Rock-Patterns und grölt dazu im veralbernden Tonfall Phrasen wie „Scheiß auf das System“, „Bier her“ oder „Schlagt die Bullen tot“; dazu schnaubt Höllennebel aus dem Untergrund. Wenn ein Schauspieler anhebt, weitere Rechercheergebnisse darzubieten, wird dazwischen gehauen, trommelnd oder auch mal rülpsend. Manchmal übernimmt dies auch ein Fakten spuckender Sidekick mit spontanen Lachanfällen und gezielten Schmatzattacken. Das soll der Punk-Geist sein, mit dem – manchmal aus sozialer Not geborenen – Narzissmus des Andersseins sich verweigernd, die Ordnung störend, auch die eines wohlfeilen Dokumentartheaterabends.

Statt authentischer Abbildung gibt es also performative Interpretation. Den Kunstcharakter erklären die Schauspieler dann auch gleich: in Gestalt eines Grundkurses in Sachen Bühnenkunst. Sie beschreiben ihr So-tun-als-ob und verfremden Punk-Gesten, trinken Bier, aber nur alkoholfreies, springen von der Bühne, allerdings nur hinein in ein Kissengebirge, rauchen, aschen aber vorschriftsgemäß in ein eigens aufgestelltes Behältnis. Nur Anke Stedingk schmeißt sich identifikatorisch in eine Rolle: Ihre Bühnenfigur erinnert sich, weder Ballettgirl noch Pferdemädchen gewesen zu sein, weder blond noch süß, und auch das Elternhaus war eine Katastrophe. Aber dann kam der erste Punkkonzert-Besuch: umlärmtes Geschubse und Gehüpfe, es roch „nach Kotze und Haarspray“ – und so etwas wie ein Zuhause-Gefühl.

Inzwischen ist ihr Punkrausch gewichen, müde der rumorende Geist, der Körper nicht mehr kompatibel mit Klamotten von H&M. Als sexuelles Wesen fühlt sich diese Frau unsichtbar zwischen all den hübschen Teenagern im Publikum. Sie ist also also auf andere Weise wieder anders, wieder Punk. Hat vielleicht die Kraft, dem von Günther extrahierten Freiheitsimpuls der Bewegung zu folgen: ihrer Do-it-yourself-Ethik.

Mut zum Nonkonformismus

Die begann mit Frisuren, Kleidung, Musik – Häuserbesetzungen – einem selbstgebastelten Lebensstil. Aktionismus statt linksalternativer Diskurs. Den Mut zum Nonkonformismus als Ansporn, etwas zu verändern: Diese Idee pflanzt Günther dem Theaterabend ein und lässt beispielsweise die Geschichte einer Pinnebergerin mit Down-Syndrom erzählen, aus deren Schwerbehinderten- ein Schwer-in-Ordnung-Ausweis wurde.

Bald schon war beim Punk ja auch Satire mit dadaistischen Anwandlungen im Spiel. Nicht nur bei den Sex Pistols, auch bei den Chaostagen: Die sollten auch mal eine Form der künstlerischen Intervention sein. Mitinitiator Karl Nagel beschrieb die zündelnden, erlebnisorientierten Spaß-Teilnehmer im Magazin Intro so: „Manche sind einfach gekommen, um sich zu besaufen. Die wollten auch keine Gewalt. Und manche wollten saufen und Gewalt. Manche wollten nur Gewalt und saufen, manche wollten was Politisches rüberbringen.“

Das hatte echten Anlass: Hannovers Polizei versuchte, auch jenseits von Straftatbeständen alle nicht perfekt normierten Jugendlichen in einer Punker-Datei aufzulisten. Um das ad absurdum zu führen, sollte die Leine-Stadt durch einen endlosen Strom von Punkern und Punkerdarstellern geflutet werden, bis keine Unterscheidung nicht mehr möglich wäre.

Leider ist von all dem wenig im Theater zu erfahren. Also fragen wir bei Ulrike Günther nach: Sind die Chaostage eine eiternde Wunde in Hannovers Historie? „Nicht überall“, sagt die Regisseurin. Weil Punker einst den Einkaufsablauf in den Konsumzonen gestört haben, seien sie von der Polizei erst in die Nordstadt und dort dann zur Eskalation getrieben worden – worauf aber auch Anwohner solidarisch reagiert hätten. „Sie waren empört, dass ihr Viertel von der Polizei zur Zerstörung freigegeben wurde. Als die Grenzen fielen, auch ein Supermarkt gestürmt wurde, kamen alle möglichen Menschen hinzu, plünderten mit, befriedigten ihr Bedürfnis nach Regelverstoß.“ Ähnlich den Chaostagen im Hamburger Schanzenviertel zu G-20-Zeiten also.

Nächste Termine: 28. 12., 12. 1. + 24. 2., Schauspiel Hannover

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