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Chemie geht steilUngebrochene Unterstützung

Auch in der Geburtsstadt des deutschen Fußballs, Leipzig, wächst die Begeisterung für Frauenteams. Chemie Leipzig setzt auf Weiterentwicklung.

Ja, wo laufen sie denn? Chemie in grün gegen RB II Foto: imago

Leipzig taz | Frauenfußball boomt. So zählt etwa der Sächsische Fußballverband so viele weibliche Mitglieder wie nie zuvor: Die BSG Chemie Leipzig ist Teil dieser Entwicklung. Die Spielerinnen Lena und Mira berichten von steigender Nachfrage in den Frauenmannschaften, ihrem Ziel, in die Regionalliga aufzusteigen, und erklären, warum Gleichberechtigung auf dem Platz ebenso wichtig ist wie sportlicher Erfolg.

Der Regen trommelt an diesem Donnerstag Mitte Juli unaufhörlich gegen das Kabinendach. Bei ungemütlichen 15 Grad und grauem Himmel trifft sich die erste Frauenmannschaft von BSG Chemie Leipzig zum Training. Ich habe mich mit Lena und Mira verabredet. Beide Spielerinnen – mit vollständigem Namen wollen sie hier nicht genannt werden – studieren auf Lehramt, sind seit Jahren aktive Fußballerinnen im Verein und waren oder sind auch als Trainerinnen tätig. Nach dem Sommer startet ihre Mannschaft in die vierte Saison, erzählen sie.

Mit der Wiederbelebung einer Frauenfußballabteilung hat Chemie laut Vereinsangaben an seine lange Frauenfußballtradition angeknüpft. Bereits 1969 habe es die erste Frauenmannschaft, damals noch in der DDR, im Verein gegeben.

Die Spielerinnen der aktuellen Frauenmannschaft sind zwischen Anfang 20 und Mitte 40. Einige kommen direkt von der Arbeit zum Training, andere von der Uni oder der Berufsschule. Zwischen nassen Jacken und Regenschirmen wird noch schnell über Abgabefristen gesprochen oder über Kommilitonen aus dem letzten Seminar gelästert. Währenddessen werden Haare zu Zöpfen gebunden, Schienbeinschoner zurechtgerückt und Schuhe geschnürt. Die ganz normale Vorbereitung auf ein Fußballtraining.

64 Vereine

In der Stadt Leipzig, in der 1900 der Deutsche Fußballbund gegründet wurde, gibt es heute 64 Fußballvereine – viele davon bauen inzwischen auch Mädchen- und Frauenmannschaften auf. Der Sächsische Fußballverband zählt aktuell etwa 6.000 weibliche Mitglieder – so viele wie nie zuvor. In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Fußballerinnen kontinuierlich gewachsen, heißt es vom Verband. Und dieser Trend zeigt sich nicht nur in Sachsen: Laut aktuellen Zahlen des Deutschen Fußball-Bundes steigen die Anmeldungen von fußballbegeisterten Mädchen und Frauen momentan deutschlandweit stetig.

Mich interessiert: Hat der Hype um die Spiele der Frauen-Nationalmannschaft, mit steigenden Einschaltquoten und wachsender Medienpräsenz, etwas mit diesem aktuellen Boom im Amateurinnenfußball zu tun? Und merken Lena und Mira davon eigentlich etwas hier im Verein? Vom EM-Sommermärchen spürt man an diesem Tag vor allem wetterbedingt wenig. In der Umkleide wird gelacht und gescherzt. Gegen das Wetter hilft Humor – und vielleicht auch ein wenig Trotz.

Viele der Frauen, die hier sitzen, haben bereits in ihrer Kindheit oder Jugend mit dem Kicken begonnen. Seit vergangener Saison gibt es bei der BSG Chemie auch die Möglichkeit, erst einmal in der zweiten Frauenmannschaft einzusteigen. An einem Platz im Kader für Interessentinnen mangelt es nicht. Die zweite Mannschaft sei gerade für jüngere Spielerinnen, die zuvor noch nie Fußball gespielt haben und sich erstmal ausprobieren wollen, ideal.

Landesliga

Denn Lena und Mira laufen in der Landesliga auf, der höchsten Spielklasse in Sachsen. Perspektivisch möchten sie mit ihrer Mannschaft in die Regionalliga Nordost aufsteigen – dafür bedarf es doch einiges an Erfahrung. Und Talent. Unten, in der zweiten Mannschaft, spielt der Spaß am Fußball die Hauptrolle – der Leistungsdruck ist eher zweitrangig. Die beiden erklären, dass nach wie vor Spielerinnen gesucht werden. Dass immer mehr Mädchen den Weg zum Fußball finden, sei für den Verein eine willkommene Entwicklung und zeige, dass das Angebot an Nachwuchsförderung und Zweitmannschaften dringend gebraucht werde.

Doch damit dieser Aufschwung nachhaltig ist, braucht es engagierte Trainer:innen, Be­treue­r:in­nen und klare Strukturen. Lena erzählt, dass sie momentan auch in ihrer Trainerinnenrolle bemerkt, dass viele jüngere Mädchen ins Training finden, die zuvor noch keinen Kontakt mit Fußball hatten. Oft kommen sie zunächst mit ihren Eltern zum Zuschauen und stehen wenig später selbst auf dem Platz. Aktuell trainiert Lena gemeinsam mit einer Freundin dreimal pro Woche eine Gruppe 15- bis 16-jähriger Mädchen. Das sei bis jetzt die einzige Nachwuchsmannschaft für Mädchen im Verein. Aber: Nachwuchsarbeit ist wichtig, auch, weil der Verband klare Vorgaben macht. Wer aufsteigen will, braucht eine funktionierende Jugendarbeit.

Ich frage Lena, wie das sei, als junge Frau bei den Trainer:innensitzungen. Gerade bei Amateurvereinen sind hier die konservativen Rollenbilder meist noch sehr stark verankert. Das zeigen auch andere Berichte von aktiven Trainerinnen und Expert:innen, die sich mit dem Thema Diskriminierung und Sexismus im Sport auseinandersetzen. Für Lena sei das hier bei der BSG kein Thema: „Wir haben einfach das Glück, dass hier keine Strukturen sind, die einer als Frau das Gefühl geben, man sei hier vielleicht nicht erwünscht oder man sei weniger wert oder die Stimme oder die Meinung zähle weniger“, sagt sie. Dass Lena von „Glück“ spricht, sagt viel. Denn in zahlreichen Fußballvereinen ist genau das eben noch immer keine Selbstverständlichkeit.

Fangruppe

Auch an den Zuschauendenzahlen im Ligabetrieb ist abzulesen, dass BSG Chemie einiges richtigzumachen scheint. Wo sonst meist eine kleine Anzahl Fans, meist Eltern, Verwandte oder Freunde, am Spielfeldrand stehen, sorgt hier regelmäßig auch eine kleine Fangruppe für Stimmung: Das seien einige der Fans, die sonst die Männermannschaft in der Regionalliga anfeuern, erklärt Mira. Ein echtes Highlight war für sie das Landespokalfinale Anfang Mai gegen die zweite Mannschaft des Bundesligisten RB Leipzig. Sie erzählt stolz, dass damals über 1.100 Zu­schaue­r:in­nen dabei waren, um die Mannschaft anzufeuern: „Das ist natürlich schon etwas Besonderes. Also ich habe da auch auf dem Platz gestanden. Das war schon cool und auch mal ein anderes, geiles Erlebnis.“

Trotz der knappen 0:1-Niederlage war die Unterstützung ungebrochen. Nach dem Abpfiff wurden sie von den Fans aufgemuntert und gefeiert, erinnert sich Mira weiter. Ein kurzer Spielbericht mit Foto und Aufstellung erschien später auf der Vereinswebsite. Ein Detail, das fast beiläufig klingt, aber keineswegs selbstverständlich ist im Amateur-Frauenfußball. „Ich glaube, da haben andere Vereine vielleicht anders zu kämpfen. Wir haben hier mit diesem Verein einfach schon viel Glück, was die Gleichstellung oder so den Versuch der Sichtbarkeit angeht“, meint Lena. Die Website der BSG Chemie listet die Ankündigungen und Spielberichte der Frauenmannschaft regelmäßig auf – eingebettet in die Beiträge zur Männermannschaft. Möglich ist das nach Angaben des Vereins vor allem wegen des ehrenamtlichen Engagements aus dem direkten Umfeld der Mannschaft. Auch vor dem DFB-Pokal-Playoff gegen den FC Freiburg-St. Georgen am Wochenende hat der Verein die Fans der Frauenmannschaft eingestimmt: von der Auslosung bis hin zu persönlichen Porträts einzelner Spielerinnen.

Bevor Lena und Mira zum Training aufbrechen, frage ich sie, welchen Wunsch sie neben dem Aufstieg ihrer eigenen Mannschaft generell für den Frauenfußball in ihrem Verein hätten. Beide müssen kurz überlegen. Ihre Antwort: Sie würden sich sehr über eine zweite Nachwuchsmannschaft im Frauenbereich freuen – vor allem, um die teils großen Altersunterschiede unter den Mädchen besser ausgleichen zu können. Lena erklärt, dass in der Juniorinnen-Mannschaft, die sie trainiert, Mädchen mitspielen, die altersbedingt eigentlich noch in einer jüngeren Altersklasse antreten dürften. Das wirke sich auf die spielerische Entwicklung und Motivation aus, denn es sei teilweise etwas deprimierend für die Jüngeren, da sie körperlich noch nicht mit den Älteren mithalten könnten.

Pünktlich zum Trainingsbeginn hört der Regen dann endlich auf. Der Rasenplatz ist zwar noch immer aufgeweicht und matschig, aber das stört hier niemanden. Die Spielerinnen klatschen sich ab und dann geht es ans Aufwärmen. Auch wenn im Vereinsalltag von der aktuellen Frauenfußball-EM vielleicht nicht viel zu spüren ist, eines fällt auf: die Begeisterung und Leidenschaft, mit der die Spielerinnen auf dem Platz stehen. Der große Turnier-Hype schlägt sich nicht in jeder Frauen- oder Mädchenmannschaft unmittelbar nieder und doch zeigen Studien, wie die großen Turniere den Frauenfußball beeinflussen können. Schon die Heim-WM 2011 steigerte die Sichtbarkeit des Frauenfußballs nachhaltig. Die verstärkte mediale Berichterstattung, die Übertragungen und die Aufbereitung der EM-Spiele in diesem Sommer zeigen: Frauenfußball ist gefragt und derzeit so präsent wie nie.

Als ich mich von Lena und Mira verabschiede, haben sie schon die ersten Runden um den Platz gedreht. Ihr Ziel ist klar: der Aufstieg.

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