Chinesische Spionage-Flugkörper: Mehr als nur 99 Luftballons

Ballons am Himmel sind kein Anlass mehr für Heiterkeit. Sondern für Sorge: Wir wissen nicht, wozu die chinesische Spionage imstande ist – und wofür.

Ein Ballon und Kampfflugzeug ist am Himmel zu sehen

Der Ballon schwebte über dem Atlantischen Ozean vor der Küste von South Carolina Foto: Chad Fish/dpa

Wer heute das alte Lied „99 Luftballons“ noch einmal spielt oder hört, dürfte einen leisen Anachronismus spüren: Wurden da nicht „General“ und „Kriegsminister“ verhöhnt, weil es ja nur „99 Luftballons“ sind, die da schweben am Horizont? So viele sind es heute nicht. Bisher entdeckt und abgeschossen waren es vier, von denen sich kanadische und amerikanische Militärs in einem Fall nicht mal sicher waren, ob es sich um einen Luftballon handelt. Dennoch: Heute lacht kaum noch jemand. Ernst nehmen will man die schwebenden Objekte hoch in der Luft allemal. Sie seien bloß für Wetterdienste, behauptete Peking? Von wegen!

Der Nena-Anachronismus lässt sich so leicht nicht mehr herunterspielen auf so etwas wie seichte Ironie: Über unseren Horizont fliegen längst unzählige Objekte. Niemand weiß, wie viele Daten, verschlüsselt in was für einem KI-Deutungsmuster, sie an wen zu welchem Zwecke senden. Erst recht nicht, mit welchen Konsequenzen. Von diesen ominösen Objekten sind die paar Luftballons, von denen man zwei als „von China kommend“ identifiziert hat, „Opas“ aus Zeiten des Ersten Weltkriegs, wenn man sich ihrer als Spionageballons vergewissern kann. Kann man?

Wohl noch nicht ganz. Noch gehen Beschuldigungen und Dementi zwischen Washington und Peking hin und her. Chinas Außenamtssprecher bezichtigt die USA 10-mal der Verletzung des chinesischen Luftraums mit US-Luftballons allein im letzten Jahr – freilich ohne jeden Beweis. Noch hüllen die Europäer sich in vornehmes Schweigen. Und doch wird auch hierzulande, noch hinter vorgehaltener Hand, gemunkelt: Was nun, wenn die Chinesen Spionageluftballons 20 Kilometer auch über unsere Köpfe hinweg schweben lassen, um, wie die US-Militärs argwöhnen, unsere Militärbasen, sagen wir nahe dem an einen russischen Oligarchen verkauften Flughafen Hahn, auszuspionieren? Was nun, wenn diese Chinesen allen Dementi zum Trotz doch Wladimir Putin beim Aggressionskrieg gegen die Ukraine unterstützen würden – mit Daten gestohlen von jenen mysteriösen Ballons zum Beispiel?

Lasst uns einen „Worst Case“ an die Wand malen: Haben nicht auch Chinesen bereits Supersonic-Raketen, gegen die westliche Militärs noch kein probates Mittel haben, um uns davor zu schützen? Noch weit entfernt von der beunruhigenden Tatsache, dass von den der Ukraine versprochenen Leopard-I-Panzern der deutschen Bundeswehr gleich Dutzende untauglich sind? Sind wir gegen irgendwelche „Generäle“ und „Kriegsminister“, verhöhnt in jenem Lied, gewappnet, wenn sie doch nicht nur Späßchen mit uns im Sinne haben, sondern es bitterernst meinen, siehe Putin?

Niemand weiß darauf eine sichere Antwort. Und darin liegt die makabre Pointe: Die langsamen, für bloße Augen sichtbar schwebenden Luftballons sind zum Symbol für unsere aufgescheuchten Seelen geworden. Sie, nicht die für die meisten Menschen ohnehin nicht mehr zu verstehenden High-Tech-Waffensysteme, untermalen jene Naivität, allein mit billigem Pazifismus und verzweifelten Rufen „Verhandlungen müssen sein, es darf ja nicht nur Waffenlieferungen geben“ Kriegen und Krisen zu begegnen. Wenn wir schon nichts tun können gegen langsam schwebende Luftballons, wo kämen wir hin, wenn … Und die Luftballons illustrieren einen Teufelskreis: Gerade aufgrund unserer Untätigkeit gegen schleichende Gefahren in der Vergangenheit sind wir umso mehr zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Je größer unsere Handlungsunfähigkeit andererseits wird, desto mehr müssten wir jedes Objekt als unheilvolle Waffe mutmaßen – in einer Quasiparanoia.

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