Chronologie der Proteste in Brasilien: Jeden Tag neue Aufrufe

Was sich an einem Streit über Fahrpreise entzündete wird zu einer großen sozialen Bewegung – und die ist noch lange nicht an ihrem Ende angekommen.

„Keine Gewalt“ – das Mantra der Proteste in Porto Alegre. Bild: reuters

PORTO ALEGRE taz | Alles begann im März. In Porto Alegre sammelten sich einige Dutzend Studierende, um gegen die erhöhten Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr (von 2,85 Real auf 3,05) zu protestieren.

Die zuständigen Behörden hatten in diesem Jahr einen entscheidenden Timingfehler begangen: Bislang wurden Fahrpreiserhöhungen immer im Februar vorgenommen – wenn Sommerferien und die Studierenden ausgeflogen sind. Diesmal fand die Erhöhung erst im März statt. Zu spät!

Zu Beginn waren die Proteste eher überschaubar. Erst dank der Verbreitung über die sozialen Netzwerke schwollen die Proteste an. Rentner und Arbeiter schlossen sich an. Videos von den Protestzügen wurden auf Youtube gestellt. In der örtlichen Presse stand dazu nicht viel.

Plötzlich, an einem regnerischen Apriltag, fanden sich Tausende ein, um den Tunnel von Conceição zu blockieren – die Hauptverbindung zwischen der Innenstadt und den äußeren Bezirken. Nur einen Tag später ruderten die Behörden zurück. So wurde der Fahrpreis auf die ursprünglichen 2,85 Real zurück gesetzt. Die Schlacht war gewonnen! Aber der Krieg ging gerade erst los.

Vorbild für andere Städte

Die Menschen in Porto Alegre gingen nämlich einfach weiter auf die Straße. Forderungen nach besserer Bildung, besserer Gesundheitsfürsorge und Korruptionsbekämpfung wurden laut. Es ging nicht mehr „nur“ um 20 Cent – schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass 20 Cent in einem Land mit einem Wochenmindestlohn von 678 Real (238 Euro) eine Menge Geld sind.

So wurde Porto Alegre, das eine Tradition der sozialen Proteste hatte und die Geburtsstätte des Weltsozialforums ist, ein Vorbild für andere brasilianische Städte. In São Paulo und Rio de Janeiro gingen Tausende auf die Straße. Die Polizei war schlicht überfordert und antwortete auf jede Forderung nach Gewaltverzicht mit Angriff. Viele der angesehensten Journalisten Brasiliens stellten sich gegen die Proteste – erst nach und nach schwenkten sie um.

Die Proteste konzentrierten sich nun vermehrt auf die kommende Fußballweltmeisterschaft. Der Regierung wurde vorgeworfen, weit mehr in neue Stadien zu investieren als in Krankenhäuser oder Schulen. Bei der Eröffnungsfeier des Confed Cups (15. Juni) wurde Präsidentin Dilma Rousseff regelrecht ausgebuht. Um die Spiele ging es in den alltäglichen Gesprächen fortan nur noch am Rand – wichtiger wurden die Proteste und was sie bringen würden.

Zwanzig Millionen

Mitte Juni kamen die Demonstrationen in der Bundeshauptstadt Brasilia an. Protestierende kletterten auf das Gebäude des Kongresses. Eine der aufregendsten Szenen wurde weder im Fernsehen übertragen noch war sie in den Zeitungen zu lesen. Tausende riefen dort vor unserem Nationalsymbol: „Wir werden erst aufhören, wenn wir hier eins, zwei, drei, zwanzig Millionen sind, um der Regierung zu zeigen, dass es nicht richtig ist, was sie mit unserem Geld, unserer Gesundheit, unserem Bildungswesen machen.“

Die Bevölkerung weiß schon seit langem über die Verhältnisse in Brasilien Bescheid – also Korruption, ein untätiges Parlament, undurchsichtige Verträge mit großen Firmen – aber sie war lange ohne Hoffnung, daran etwas ändern zu können. Natürlich wäre es aber falsch anzunehmen, dass alle wissen, worum sich die Proteste drehen – immerhin reden wir von einem Land, in dem zehn Prozent der Bevölkerung nicht einmal ihren Namen schreiben können, weil sie niemals zur Schule gegangen sind.

Aber dennoch haben die Demonstrationen die Regierung zum Handeln gebracht. Präsidentin Dilma Rousseff schlug in einer Fernsehansprache der letzten Woche eine Änderung der Verfassung von 1988 vor – dem Jahr, als die Demokratie in Brasilien eingeführt wurde. Rousseff sagt, sie habe verstanden, aber man kann ihre Reaktion auch als Angst vor einer möglichen Amtsenthebung verstehen – und schlimmstenfalls als die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf das Ende der Demokratie durch einen Militärputsch.

Über Facebook gibt es jeden Tag Aufrufe zu neuen Aktionen, für den 1. Juli wird zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Bevölkerung wartet, wie die Regierung reagiert. Und wenn diese nicht es nicht schnell tut, dürften die Protestaktionen weitergehen.

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