Cinefest in Hamburg: Rote Filme sieht man besser

Das Hamburger Cinefest setzt nicht wie die meisten anderen Festivals auf den neuen heißen Scheiß, sondern zeigt ausschließlich historisch bedeutende Filme.

Mit dem Fiat Topolino in der Wandelhalle des Hamburger Hauptbahnhofes geparkt: Graffiti-Künstler Peter Ernst Eiffe. Bild: Die Thede (Hamburg)

HAMBURG taz | Es gehört fast zur Definition eines Filmfestivals, dass dort neue Filme, wenn möglich als Erstaufführungen, gezeigt werden. Das alljährlich im Hamburger Kommunalkino Metropolis veranstaltete Cinefest bildet da eine Ausnahme. Seine Gründer verstehen es als ein „Internationales Festival des deutschen Film-Erbes“. Während bei anderen Festivals Retrospektiven und Werkschauen als Nebenreihen organisiert sind, werden beim Cinefest nur Filme gezeigt, die eine historische Bedeutung haben.

Veranstaltet wird das Cinefest vom Hamburgischen Centrum für Filmforschung Cinegraph und dem Filmarchiv des Bundesarchivs. Seit 2004 gibt es Themenschwerpunkte. Los ging es mit „Deutsche Filmkomödien vor 1945“, spätere Titel hießen „Leinen los! Maritimes Kino in Deutschland und Europa“ oder „Verboten! Filmzensur in Europa“. Dieses Jahr werden erstmals ausschließlich Dokumentarfilme gezeigt – das Oberthema lautet „Gegen? Öffentlichkeit!“

Der Untertitel „Neue Wege im Dokumentarischen“ ist eher filmhistorisch gemeint, denn als neu verstehen die Veranstalter den fundamentalen Wandel, den der dokumentarische Film in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchlaufen hat. Damals ermöglichten Entwicklungen wie leichte 16mm-Kameras, die in der Hand gehalten werden konnten, und tragbare Tonbandgeräte den Dokumentarfilmern viel unmittelbarer und beweglicher zu arbeiten. Zeitgleich gab es weltweit politische Umbrüche wie den Vietnamkrieg und die Studentenrevolten, die immensen Einfluss auf den Dokumentarfilm hatten.

Viele Filmemacher sahen den Dokumentarfilm als ihr Mittel zur politischen Veränderung oder zumindest zur Aufklärung. Dem soll mit dem Titel „Gegen? Öffentlichkeit!“ Rechnung getragen werden. Frage- und Ausrufungszeichen seien, so die Veranstalter im Einführungstext ihres Katalogs, „das Ergebnis eines Diskussionsprozesses“, denn der in den 60er-Jahren allgegenwärtige Begriff der Gegenöffentlichkeit erweise sich heute als „kommunikativer Stolperstein“, weil er „völlig unterschiedlich verstanden“ werde.

Das ist auch interessant, weil heute nicht nur die Worte, sondern auch die Bilder von damals anders verstanden werden. Bei einigen Filmen aus den späten 60er- und frühen 70er-Jahren machten schon die Titel deutlich, dass sich die Filmemacher von der Illusion des objektiven Blicks des Dokumentarfilmers verabschiedet hatten und sie ihre Filme stattdessen als Teile und Instrumente der in ihnen geschilderten politischen Veränderungen verstanden. So war „Von der Revolte zur Revolution“ aus dem Jahr 1969 ganz selbstverständlich eine parteiische Dokumentation über die Studentenproteste in Hamburg gegen Springer. Gedreht von einem Kollektiv, wird er heute besonders in Hamburg nicht mehr als agitatorisches Werk, sondern eher mit nostalgischen Augen gesehen werden. Diese Bedeutungsverschiebung ist sicher auch ein Thema, das einige der Filmemacher mit dem Historiker Axel Schildt nach der Vorführung am Sonntag um 16.45 Uhr diskutieren werden.

Eine ähnliche Wirkung dürfte „Rote Fahnen sieht man besser“ von 1970 heute haben. Die Dokumentation über die ersten Massenentlassungen in der Bundesrepublik nach der Schließung eines Krefelder Chemiewerks war damals politisch so brisant, dass die ARD nur eine veränderte Fassung ausstrahlte. Am Montag um 19 Uhr wird der Regisseur Rolf Schübel davon erzählen.

Welche Sprengkraft Dokumentationen haben können, kann man exemplarisch an „Der Kandidat“ von 1980 untersuchen. Das Porträt von Franz Josef Strauß wurde damals von Volker Schlöndorff, Alexander Kluge, Alexander von Eschwege und Stefan Aust gedreht, um die Wahl von Strauß zum Bundeskanzler zu verhindern. Entsprechend wütend waren die Reaktionen. Aus Bayern wurde durchgesetzt, dass die Bewertungsregeln der Filmbewertungsstelle Wiesbaden verändert wurden. Dort hatte der Film das Prädikat „besonders wertvoll“ bekommen. Der Filmverlag der Autoren musste einen Prozess gegen die Bundesanstalt für Filmförderung führen, bei dem herauskam, dass diese „keine Befugnis zu einer inhaltlichen Prüfung eines zu fördernden Films“ habe.

Im Cinefest-Programm finden sich Klassiker des politisch engagierten deutschsprachigen Dokumentarfilms wie „Septemberweizen“ von Peter Krieg und einige europäische Referenzfilme wie der Essayfilm „Sans Soleil“ von Chris Marker oder „Which side are you on“ von Ken Loach. Die nicht immer linientreue Dokumentarfilmtradition der DDR wird durch Volker Koepps „Leben in Wittstock“ und „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann“ von Helke Misselwitz über Kohlearbeiter in Ost-Berlin repräsentiert. Mit „Workingman’s Death“ von Michael Glawogger von 2005 kommt das Programm der Gegenwart nahe.

Einige schöne Fundstücke wie „Love and Music“ sind zu entdecken. Diese europäische Variante des Konzertfilms „Woodstock“ wurde 1970 bei einem Open Air in Rotterdam gedreht, bei dem Santana und Pink Floyd auftraten. „Eiffe for President. Alle Ampeln auf Gelb“, 1995 von Christian Bau gedreht, ist für Hamburger Zuschauer eine Art antibürgerlicher Heimatfilm. Der Film ist eine Spurensuche nach Peter Ernst Eiffe, einem Hamburger Original, der als der erste Graffitikünstler Deutschlands gilt. Seit Mai 1968 bemalte er die Stadt mit seinen Sprüchen und war in der linken Szene allgegenwärtig. Als Höhepunkt seiner alternativen Karriere fuhr er mit seinem Fiat Topolino in die Wandelhalle des Hauptbahnhofs, den er zur „Freien Republik Eiffe“ erklärte. Danach wurde er in die Psychiatrie eingewiesen, wo er die letzten 15 Jahre seines Lebens verbrachte. Der Film ist nicht nur ein einfühlsames und oft sehr komisches Porträt eines Außenseiters, er ist auch stilistisch interessant, weil dokumentarisches Material mit inszenierten Szenen gemischt wurden. Somit steht er für eine der neuen Entwicklungen im Dokumentarfilm.

Cinefest: 15.–23. 11., Metropolis Kino, Kleine Theaterstr. 10, Hamburg
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