Coronakrise weltweit: Freiheit braucht eine Wahl

Steht die Gesundheit über allem? Was und wer ist wirklich systemrelevant? Sind wir mit der Globalisierung zu weit gegangen? Was wir aus der Krise lernen können.

Zwei Männer an mit Absperrband gesperrten Fitnessgeräten.

20. März, Volkspark Wilmersdorf in Berlin: Zwei Männer hangeln sich durch den Ausnahmezustand Foto: Christoph Soeder/dpa

Die Weltgesellschaft hat Grippe, schwere Grippe. Bei uns Menschen dauert sie circa zwei Wochen, bei Gesellschaften vielleicht ein Jahr. Menschen sind häufig nach extrem bedrohlichen Erkrankungen nicht mehr dieselben – sie stellen Fragen an sich selbst, an ihre Vorstellungen vom Richtigen und Guten, an ihre Werte und Prioritäten. Häufig erleben Menschen eine solch existenzielle Krise als Selbsterkenntnisgewinn, als Befreiungsschlag, als Sprung in der Biografie. Dafür müssen sie aber die Bedrohung heil überstehen.

Ähnlich kann es einer Gesellschaft ergehen. Wir erleben eine beispiellose Krise. Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, Fußball nicht gespielt wird und Autos nicht gebaut werden und all das europaweit auf unbestimmte Zeit, dann wird die Tragweite und Besonderheit der Situation bereits deutlich. Alles, was nicht notwendig ist, wird eingestellt. Vieles, was wichtig erschien, ist es nicht. Auch die zentralen Institutionen der Kunst und der Wissenschaft sind geschlossen. Weite Teile der Wirtschaft stehen kurz vor dem Stillstand. Und die Bundeskanzlerin spricht aus aktuellem Anlass zur Bevölkerung. Dass all das gleichzeitig geschieht, ist einzigartig und wird enorme Folgen haben. War on Terror, Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise und Populismus erscheinen auf einmal klitzeklein.

Wir lernen nun unsere Gesellschaft besser kennen. Was ist jetzt wirklich wichtig? Staat, Familie und Medien (auch neue Medien). Was sind systemrelevante Berufe? Die Menschen, die sich um die Wasser- und Stromversorgung kümmern. Polizei, Feuerwehr und Müllentsorgung, die Banken, auch wenn das vielen nicht gefällt – alle sind nach wie vor systemrelevant. Aber wie wichtig Postzusteller/innen, Lkw-Fahrer/innen und ganz besonders die Arbeitskräfte in Lebensmittelindustrie und -einzelhandel, in den Krankenhäusern und Kitas sind, merkt man jetzt, wenn es ums Existenzielle geht. Nach der Krise wird darüber zu reden sein, ob Ansehen und Arbeitsbedingungen dieser Berufe ihrer Bedeutung entsprechen.

Wir lernen noch mehr. Maßnahmen, die weit außerhalb des Denkbaren waren, sind innerhalb weniger Tage umgesetzt – und sie reichen vielen dann schon nicht mehr aus. Wenn man wirklich will, ist Unvorstellbares möglich. Aber: Die Stärken offener Gesellschaften sind zugleich ihre Schwächen – drastische Maßnahmen, die automatisch die Freiheiten einschränken, können kaum zu Beginn einer Krise einsetzen, sie müssen nach und nach in der Krise angepasst werden. Sie werden nur zögerlich befolgt und notwendigerweise von kritischen Stimmen begleitet.

Kollektive Traumatisierungen

Aber drastische Maßnahmen, wozu auch Ausgangssperren gehören können, sind aus zwei Gründen angezeigt: Erstens, weil ganz ohne Maßnahmen praktisch das Gleiche passieren würde. Schulen müssten schließen, weil Lehrkräfte und Kinder krank werden. Museen und Theater würde kaum jemand mehr besuchen. Die Bundesliga fiele aus, weil zu viele infiziert wären, die Wirtschaft stünde unkontrolliert still, zudem wären die Krankenhäuser überlastet und viele Menschen würden sterben, die nicht sterben müssten. Zwar würde keine Freiheit durch den Staat eingeschränkt, aber dadurch, dass die Infrastruktur kollabierte, hätte man von seiner Freiheit nichts, wirklich nichts. Mal ganz abgesehen von den kollektiven Traumatisierungen, die dieses Chaos nach sich ziehen würde.

Zweitens, weil moderate Maßnahmen sehr zielgerichtet zu unserer Bevölkerung passen müssten. Die Idee, nur die Alten und die Risikogruppen zu isolieren, ist gar nicht so einfach umzusetzen. Bei der Gruppe über 67 handelt es sich um 20 Prozent der Bevölkerung (16 Millionen), zieht man die Linie bei 65 Jahren, sind es weitere zwei Millionen Menschen. Mit jüngeren Vorerkrankten dürfte man auf fast 30 Prozent der Bevölkerung kommen. So in etwa sieht es in ganz Europa aus.

Und wo halten sich die meisten gefährdeten Gruppen auf? In Seniorenheimen, Krankenhäusern und Arztpraxen. Wie soll man diese Orte und die dort arbeitenden Menschen vor einer Infektion schützen, wenn sich das Virus ansonsten weiter verbreitet? Und: Ziemlich viele aktive Lehrer/innen, Polizist/inn/en, Richter/innen und Manager/innen sind älter als 60. Wir haben in Europa auf der einen Seite ein besseres Gesundheitssystem als andere, aber wir haben auch eine recht alte Bevölkerung – auch in der Gruppe der Berufstätigen.

Priorisierungen verändern sich

Eine Pandemie ist eine Pandemie. Die Folgen der Maßnahmen darf man nicht an den vergangenen Jahren messen, sondern an einer möglichen Zukunft ohne diese Maßnahmen. Die Maßnahmen sind von großer Tragweite. Nach den Leitkulturdebatten der vergangenen Jahrzehnte ist die Empfehlung, sich nicht die Hand zu geben, Abstand zu halten, vielleicht sogar Mund und Nase zu verdecken und im Idealfall nicht mehr das Haus zu verlassen, fast schon komisch. Das sind tatsächlich weitreichende Einschnitte in die (Alltags)Kultur.

Zwischenzeitlich verändern sich Priorisierungen. Das Verhältnis von Staat und Individuum verschiebt sich, auch das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Alles ist gleichermaßen wichtig. Aber Freiheit ist nur Freiheit, wenn das Individuum wirklich die Wahl hat. Das ist hier nicht der Fall. Um der Pandemie etwas entgegenzusetzen, müssen sich zumindest zeitweise fast alle gleich entscheiden. Das schafft man nur mit klaren Regeln, auch mit Verboten und zugleich mit Überzeugungsarbeit und Aufklärung. Denn eines ist klar: Wenn es zu einer Katastrophe kommt, weil man nicht zu drastischen Maßnahmen gegriffen hat, dann hat das extreme Auswirkungen auf die Zukunft der Demokratie und der Freiheit, denn dann werden notorische Sicherheitsfanatiker und Populisten gewinnen.

Dennoch ist auch klar: Es gibt derzeit keine Strategie. Es geht um Zeitgewinn. Für die Forscher/innen, für die Krankenhäuser, für die Entwicklung von Strategien. Mehr geht im Augenblick nicht. Keine guten Zeiten für Menschen, die klare Strukturen und Planungssicherheit lieben. „Gute“ Zeiten für Besserwisser und Verschwörungstheoretiker. Irgendwann wird die Frage gestellt werden, in welchem Verhältnis die Effekte zu den Nebeneffekten der Maßnahmen stehen. Steht die Gesundheit über allem? Und wenn ja, dann steht immer noch nicht fest, was die Gesundheit langfristig am besten stützt. Die indirekten gesundheitlichen Folgen von drastischen Maßnahmen über längere Zeit müssen im Blick bleiben. Ökonomische Katastrophen können auch töten.

Müssen wir Selbstversorger werden?

Es bleibt zunächst nur zu hoffen, dass die Maßnahmen greifen und das Schlimmste im Laufe des Jahres überstanden ist. Vieles deutet darauf hin, dass die Gesellschaft nach dieser Krise nicht mehr dieselbe sein wird. Während einer der schwersten und längsten Weltwirtschaftskrisen müssen dann ergebnisoffen viele Fragen diskutiert werden:

Haben Digitalisierung und Internet vielleicht eine viel weitreichendere Bedeutung, als wir angenommen haben, nicht nur für die Bewältigung der nächsten Pandemie? Was und wer ist systemrelevant? Aber auch: Was an und in den Systemen ist eigentlich (nicht) relevant?

Wie sieht es mit dem europäischen Zusammenhalt aus? Was in der ersten Panik noch nicht gut funktionierte, kann ja noch werden. Die Pandemie wurde ja erst vor einigen Tagen wirklich als solche begriffen, und die Situation ist in den Ländern und Regionen unterschiedlich dramatisch, entsprechend sind in der Anfangsphase unkoordinierte Alleingänge nachvollziehbar. Entscheidend ist, was in den nächsten Tagen und Wochen passiert.

Sind wir mit der Globalisierung zu weit gegangen oder nicht weit genug? Sollte das Land in einigen Bereichen wieder Selbstversorger werden, etwa bei medizinischen Produkten? Oder müssen wir global viel enger kooperieren?

Eine Weltgesellschaft, die vom Macht- und Konkurrenzmodus auf Kooperation, Solidarität und Zusammenhalt umschaltet, wäre etwas Neues. Sie täte das nicht aus Altruismus, sondern weil es sein müsste. Vor Corona dachte ich, es bräuchte Außerirdische, um diesen Zwang zu erzeugen. Vielleicht sind es winzig kleine Viren, die uns zeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen und von systematischer Kooperation abhängig sind. Vielleicht hilft diese Erfahrung auch für die Bewältigung der Klimakrise. Grundlegende Änderungen erscheinen plötzlich nicht mehr unrealistisch. Es wird in jedem Fall bei all diesen Fragen nicht mehr ohne weiteres möglich sein zu sagen: geht nicht. Es geht sehr viel.

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Jahrgang 1978, ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. 2018 erschien sein Buch „Das Integrationsparadox“, in dem er begründet, warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. In seinem neuen Buch zerpflückt er den deutschen „Mythos Bildung“ (erschienen bei Kiepenheuer und Witsch).

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