Corona in Tschechien: Kuscheln statt Abstand

Durchschnittlich 8.000 neue Fälle täglich: In Tschechien explodieren die Infektionszahlen. Gegenmaßnahmen werden weitgehend ignoriert.

Ein mann in einem Schutzanzug sitzt alleine in einem weissen Zelt

Massiv ansteigende Fallzahlen: Coronateststelle in Prag Foto: Petr David Josek/ap

PRAG taz | Im „Haus zur schwarzen Mutter Gottes“, einem kubistischen Kleinod im Zentrum der tschechischen Hauptstadt Prag, sind Rundungen eigentlich verpönt. Sogar die Windbeutel im gleichnamigen Restaurant Schwarze Madonna im Erdgeschoss sind so eckig wie die Tassen, Teller und Tische – eine Hommage an die tschechoslowakische Avantgarde der Zwischenkriegszeit, die als nationales Kulturgut gilt.

Auch hier hat die Coronakrise zum Umdenken gezwungen: Da ausländische Touristen ausbleiben, hat sich die restauranteigene Zuckerbäckerin Olga Budník ein neues, süßes Schmankerl ausgedacht. Der „Covidník“, ein Törtchen aus Pistaziencreme und Himbeeren in einer Schicht knuspriger Schokolade, ist so groß wie ein Tennisball und rund wie das Coronavirus. Dessen typische Stacheln in der Virushülle sind nachempfunden aus Himbeeren und Schokolade. „Das einzige Coronavirus, das man eigentlich will“, meint Schöpferin Budník.

Ihre Prager geben der gebürtigen Ukrainerin recht: Über einhundert Coronatörtchen gehen pro Tag weg wie warme Semmeln. „Dieses Dessert kann zum Symbol dafür werden, dass noch nicht alles verloren ist“, sagt der Marketingchef des Restaurants, Vojtěch Heřmanek optimistisch.

Tschechiens Regierung würde seine Zuversicht gern teilen. Doch dem stehen konstant wachsende Fallzahlen im Weg. Durchschnittlich 8.000 Neuinfizierte pro Tag, jeder dritte Test ist positiv.

„Vor dem Kollaps“

„Tschechien steht in zwei Wochen vor dem Kollaps“, warnt Innenminister Jan Hamáček (ČSSD) als Vorsitzender des Krisenstabs: Wenn man sich jetzt nicht an die Anticoronamaßnahmen halte, werde man bald die Leichen in Kühlfächern auf der Straße stapeln müssen. „Uns droht ein Szenario wie in Italien oder New York im Frühjahr“, orakelt Hamáček.

Nur nimmt ihn kaum noch einer ernst. Denn die Corona­krise in Tschechien ist nichts weiter als eine Manifestation der mangelnden Legitimität der Regierenden. Anstatt deren Maßnahmen zu achten, ist man kreativ darin, sie zu umgehen. Wenn die Coronakrise eines beweist, dann: Schwejk lebt.

Vorgaben der Regierung, Masken im öffentlichen Nahverkehr zu tragen, bemerkte man erst, nachdem nervöse Ordnungshüter Verweigerer in der U-Bahn niedergeknüppelt hatten. Umso mehr teilte man dann Joints in Biergärten oder kuschelte sich bei kulturellem Anlässen aneinander.

Eigentlich belegt die derzeitige Coronakrise in Tschechien eines: Die Legitimation der Regierung beim Staatsvolk ist miserabel, Tendenz weiter schwindend. Nachdem am 5. Oktober gemeinsames Singen wegen Tröpfcheninfektion verboten wurde, bildeten sich in Prag neue Sängerkreise. Ein Prager Club reagierte auf den krisenbedingten 22-Uhr-Schluss mit „wichtigen nächtlichen“ Filmdrehs, bei denen jeder Gast zu einem Komparsen werden würde.

Test für 100 Euro

Jetzt hat das Land den Salat: Raus kommt man nur noch mit einem negativen Coronatest. Der kostet um die 100 Euro. Notstand herrscht seit Anfang Oktober. Am Mittwoch erfolgte eine erste Vollbremsung: Schulen, Restaurants, Bars und Clubs sind geschlossen, Gruppen von mehr als sechs Leuten verboten, Maskenpflicht gilt für geschlossene Räume.

Gesundheitsminister Roman Prymula bedauert jetzt, den Job angenommen haben. Als früherer Oberst der kommunistischen Staatssicherheit nehmen ihn weite Teile der Bevölkerung eh nicht ernst. Das Gleiche gilt auch für Premier Andrej Babiš, der öffentlich erklärt, er habe keine Ahnung, was falsch gelaufen sei, und herumstottert über Zehntausende, die sterben würden und ihm leidtäten.

Präsident Miloš Zeman zeigt indes kein Mitleid. Wer wegen der Krise pleitegehe, habe es auch nicht besser verdient, erklärte er. Dem urbanen Bildungsbürgertum werde es nicht schaden, wenn Kneipen und Cafés zu seien. „Dann haben sie Zeit zum Lesen.“ Oder um Törtchen zu genießen.

„Als Nächstes kreiere ich eine Süßspeise, die aussieht, wie ein Corona-Impfstoff“, sagt die Zuckerbäckerin Olga Budník.

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