DDR-Architektur und Nachwende-Rekonstruktion: Eine Geschichte, die es so nie gab

Der Architekturstreit über die Berliner Fischerinsel in der DDR gibt wichtige Anregungen für die aktuelle Rekonstruktionsdebatte.

Die Farbaufnahme zeigt eine Brache voller Gerümpel auf der Berliner Fischerinsel. Im Hintergrund Altbauten und eine moderne Scheibe.

Der „sozialis­tischen Umgestaltung“ fielen die Häuser der Fischer­insel 1969 zum Opfer Foto: Karl Johannes/bpk

Der Fischerkiez liegt auf der Südspitze der Spreeinsel im Herzen Berlins. Sechs Hochhaussolitäre bilden mit einigen Flachbauten in der begrünten Fläche die Bebauung. Die Fischerinsel erregt wenig Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich um ein wegweisendes stadtplanerisches Bauprojekt der DDR.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sah man sich mit der Frage konfrontiert: Sollte man den alten Baubestand rekonstruieren, die Stadt so wiederaufbauen, wie sie vor dem Krieg aussah? Oder sollte man die zerstörte Bausubstanz abreißen und eine radikale Neugestaltung wagen? Der Fischerkiez wurde zum Austragungsort dieser Debatte im Spannungsfeld von Stadtplanung, Kunstgeschichte und Politik.

In Alt-Cölln, an der Südspitze der Spreeinsel, liegt einer der Ursprünge Berlins. Hier siedelten um 1150 die ersten Bewohner. Anfang des 20. Jahrhunderts empfahl der Baedeker den verwinkelten Kiez mit seinen Kneipen. Im Zweiten Weltkrieg trafen die Bombardements auch den Fischerkiez, zerstört wurde er nicht: 1945 gilt über die Hälfte des Viertels als aufbaufähig. Doch die Politik zögert.

Hermann Henselmann, Chefarchitekt des Ostberliner Magistrats, spricht sich für den Erhalt des Fischerkiezes aus. Gleichzeitig legt der Architekt Hans Schmidt Pläne für eine „Reorganisation“ des Viertels vor, bei der einzelne „schützenswerte“ Gebäude neben neuen Wohnhochhäusern erhalten bleiben sollen.

Generalplan zur sozialistischen Umgestaltung

Die beiden Architekten nehmen in der Diskussion exemplarisch die sich gegenüberstehenden Positionen ein: Henselmann fordert Re­kon­struktion, Schmidt den radikalen Neubau von typisierten Hochhäusern mit der Erhaltung weniger Baudenkmäler. Beide Architekten legen später umfangreiche Pläne vor, werden aber nicht mit der Umsetzung beauftragt.

Dem neuen „Generalplan der sozialistischen Umgestaltung“, der den Neubau auch auf Kosten historischer Bausubstanz vorsieht, wird nun alles untergeordnet. Eine „Neugestaltung des aus Ruinen und stark überalterten Gebäuden“ bestehenden Gebietes sei „unumgänglich“.

Die Gefahr der historischen Verfälschung

Die Kahlschlagsanierung wird ab 1964 vollzogen. Der gesamte Fischerkiez, darunter 33 Baudenkmale, wird abgerissen. Stattdessen werden bis 1973 sechs 21-stöckige Hochhäuser mit je 240 Wohnungen gebaut. Der neu ernannte Chefarchitekt des Magistrats, Joachim Näther, begründet die Vorgehensweise nicht nur aus ökonomischen Gesichtspunkten: „Der historisierende Aufbau wurde untersucht, er birgt jedoch die Gefahr der historischen Verfälschung, die nicht im Interesse denkmalpflegerischer Arbeit liegen kann.“ Eine progressive Entscheidung, die Henselmann kritisiert. Er weist darauf hin, dass „in der Bevölkerung die Sehnsucht nach dem Fischerkiez“ fortbesteht“.

Die Neugestaltung beinhaltet dringend benötigten modernen Wohnraum. Das städtebauliche Ensemble im Fischerkiez wird zum Symboldes aufstrebenden Ostberlin. Mit ihrer Höhe von 65 Metern senden die Wohntürme ein Signal über die Mauer und weisen siegesgewiss in die sozialistische Zukunft.

Das Haus steht der Umgestaltung im Weg

Sinnbildlich für die Zerrissenheit der damaligen Diskussion steht die Biografie des Ermelerhauses. Das Patrizierhaus mit seinen prunkvollen Sälen und der klassischen Fassade stammt aus dem 16. Jahrhundert. Während des Krieges wird das Gebäude von mehreren Bomben getroffen, die Prunksäle im Vorderhaus kommen aber glimpflich davon. Der Besitz des Ermelerhauses geht nach 1945 an den Magis­trat der DDR, der den Erhalt des Gebäudes als „wünschenswert“ einstuft. Große Teile des Hauses werden restauriert, ehe es Sitz der Ratsbibliothek und des Stadtarchivs wird.

Doch das Ermelerhaus steht der „sozialistischen Umgestaltung“ buchstäblich im Weg. Trotz der Proteste seitens der Bevölkerung und der Denkmalpflege muss das Ermelerhaus einer Magistrale weichen. Vollkommen verschwinden soll es aber nicht: Die Verschiebung der originalen Bausubstanz durch „Verrollung“ über Gleitbahnen wird in Betracht gezogen, es kann aber kein geeigneter Standort gefunden werden. Man beschließt, das Ermelerhaus und einige andere im Viertel verteilte Gebäude ab- und an anderer Stelle wiederaufzubauen.

Traditionszeile und Hochhäuser

So entsteht ab 1967 die „Traditionszeile Friedrichsgracht“ am Märkischen Ufer. Bei den Bauten kann man nicht von einer „Translozierung“, also einem präzisen Aufbau mit der originalen Bausubstanz, sprechen. Angesichts des Einsatzes von Beton, der Zerstückelung der historischen Elemente und anderer Eingriffe kann allenfalls von einer historisierenden Neu­interpretation die Rede sein. Bis heute stehen sich, vom Spreekanal getrennt, Traditionszeile und Hochhäuser gegenüber.

Nur 500 Meter Luftlinie vom Fischerkiez entfernt findet derzeit der Neuaufbau des Berliner Stadtschlosses statt. Drei Barockfassaden und die Kuppel werden dabei exakt rekonstruiert, die Sichtbetonfassade zur Spree setzt sich in zeitgenössischer Gestaltung ab. Mit der Reanimierung historisch dahingeschiedener Bausub­stanz ist Berlin nicht allein.

Neubebauung sollte „die Gefahr der historischen Verfälschung“ bannen

Rekon­struk­tions­welle nach der Wende

In nahezu jeder deutschen Stadt lassen sich Beispiele finden: In Potsdam wird an einer Rekonstruktion der Garnisonkirche gearbeitet. In Frankfurt wurde vor einem Jahr die Fertigstellung der Rekon­struk­tion der Altstadt gefeiert. 2007 vollendete man die Rekonstruktion des Braunschweiger Schlosses, kurz nachdem 2005 der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche die neue Rekon­struk­tions­welle nach der Wende eingeläutet hatte.

Der Versuch im Fischerkiez, sozialistische Neugestaltung und den Erhalt historisch wertvoller Bausubstanz in Einklang zu bringen, kann für die aktuelle Debatte Anregung sein. Die Neubebauung des Kiezes sollte „die Gefahr der historischen Verfälschung“ bannen. Sie schuf innovative Akzente für die so­zia­listische Umgestaltung, ohne dabei den Krieg und seine Folgen zu vertuschen. Ob man die Hochhäuser heute als ästhetisch ansprechend oder gar als schön bewerten möchte, ist zweitrangig. Wichtiger ist, sie als authentische Produkte ihrer Zeit zu begreifen.

„Träger einer belasteten Gesellschaft“

Die Wohntürme gingen auf die realen Bedürfnisse der damaligen Gesellschaft ein: Sie boten großen, höchst modernen und komfortablen Wohnraum, nutzten die neuesten technischen Möglichkeiten und passten sich in die Ideologie der autogerechten Stadtplanung ein. Heute sind sie ein historisches Zeugnis der Nachkriegs-DDR und deren Haltung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Gefangen in der ideologischen Fixierung auf das neue sozialistische Bauen sowie einer finanziellen Beschränktheit, ging die Neubebauung auf Kosten des alten Viertels. Motiv war auch die kritische Haltung der DDR zu historischen Gebäuden als Träger einer belasteten Gesellschaft. Die Traditionszeile ist als Versuch der Beschwichtigung zu verstehen und sollte kaschieren, dass der alte Fischerkiez endgültig zerstört wurde.

Sie täuschen eine Geschichte vor

Diese Zeile aber erlag der Gefahr der historischen Verfälschung. Als Mischwesen nutzen uns die Gebäude weder als Zeugnisse des 16. noch des 18. oder des 20. Jahrhunderts. Heute können sie höchstens Zeugnis eines Versuchs der Präservation von Baudenkmälern sein, die der sozialistischen Stadtgestaltung untergeordnet war. Sie täuschen aber eine Geschichte vor, die so nie existierte.

Seit zwei Jahrzehnten nimmt die Sehnsucht nach historischen Prestigegebäuden zu. Im Streit über den Fischerkiez schrieb die Presse von einer anhaltenden Sehnsucht der Berliner nach ihrem alten Viertel. Zwischen den Sehnsüchten von damals und denen von heute muss jedoch unterschieden werden: Es war damals dieselbe Generation, die die Zerstörung durch den Krieg miterlebte und sich nach 1945 an der Diskussion über den Wiederaufbau des Kiezes beteiligte.

Die Stimmen der Enkelkinder

Die Stimmen, die heute, fast 75 Jahre nach Kriegsende, einen Wiederaufbau fordern, gehören den Enkelkindern dieser Generation. Sie haben Berlin vor seiner Zerstörung nicht gekannt und konnten daher auch keine emotionale Bindung an die Architektur der Vorkriegszeit aufbauen.

Die Art und Ursache der Gefühle, die heute zum Wunsch nach Rekonstruktionen führen, müssen folglich anderer Natur sein. Die starke Abneigung gegen „moderne Architektur“, die oft von einer Enttäuschung über den industriellen Wiederaufbau der Nachkriegszeit herrührt, könnte eine Ursache sein. Diese Abneigung geht oft mit dem Glauben einher, „gleichsam gefallene Maschen im Strickmuster des deutschen Geschichtsbildes wieder aufnehmen zu können“, wie der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Johannes Habich analysiert.

Es gilt, die Brüche zu akzeptieren

Ebenjene „Gefahr der historischen Verfälschung“, vor der Joachim Näther bereits 1967 warnte, ist durch die heutigen Rekonstruktionsprojekte so groß wie nie. Der Krieg rückt in immer weitere Ferne, es ist daher umso wichtiger, dass seine Spuren in den Städten für kommende Generationen sichtbar bleiben. „Indes ist nicht schwer zu erkennen, dass die Rekon­struk­tionswelle mit einer von neubürgerlichen Interessen gelenkten gesellschaftspolitischen Weichenstellung zusammenhängt, die dabei ist, unsere Erinnerungskultur manipulierbar zu machen. Das verlangt entschiedenen intellektuellen Widerstand!“, konstatiert daher Johannes Habich.

Der misslungene Versuch der Traditionszeile sollte nicht in immer größerem Maßstab wiederholt werden: Mischwesen zu erschaffen, im Krieg zerstörte Gebäude aus der Versenkung der Geschichte wieder hervorzuzerren ist aus politischer, kunstgeschichtlicher und denkmalpflegerischer Hinsicht geschichtsverloren. Es gilt vielmehr, die Brüche zu akzeptieren und zu thematisieren. Zeitgemäße Wagnisse einzugehen und auf die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft zu reagieren. So wie es die Neubebauung des Fischerkiezes vor rund 50 Jahren tat.

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