Dancefloor-Sommerkollektion 2018: Wo ist mein Wristband?

Elektronische Musik ist zukunftsweisend, Und zwar dann, wenn sie dem Update-Imperativ nicht folgt: Neues aus New York, Detroit, Chicago und Berlin.

Mann mit Basecap zündet sich eine Zigarette an

Hat die Ruhe weg: RP Boo Foto: Will Glasspiegel

In unserer Gesellschaft ist alles in Bewegung“, erklärte Kraftwerk-Mastermind Ralf Hütter dem britischen Autor und Musiker David Toop 1994 in einem Interview. „Strom fließt durch Leitungen, und die Leute, die Bio-Einheiten, reisen von Stadt zu Stadt. Irgendwo treffen sie sich und es macht pffft. Warum sollte Musik da stillstehen? Musik ist die fließende Kunstform.“ Heute wird die Pionierleistung von Kraftwerk, fluide Musik aus Strom erzeugt und damit das Fundament des zeitgenössischen elektronischen Pop vorbereitet zu haben, als „Gesamtkunstwerk“ begriffen. Zuletzt in dem Reader „Mensch Maschinen Musik“ (Herausgeber Uwe Schütte, C.W. Leske Verlag, Berlin, 2018, 366 S.). Allerdings führt die akademische Weihe ihrer Leistung in eine Sackgasse.

Trotz vieler guter Überlegungen kommt darin ein zentraler Aspekt zu kurz: Kraftwerk wollten weg von ihrer klassischen Ausbildung am Konservatorium, ihr formstrenger elektronischer Pop (Youtube) war ein Befreiungsschlag gegen alte Konventionen. Sie waren noch geprägt von der strikten Trennung in E und U. Erst durch die Rezeption als „Techno Boogie“, als maschinelle elektronische Tanzmusik in den USA der Disco-Ära, konnten die Düsseldorfer zu der Projektionsfläche werden, die sie sind.

Noch heute steht Kraftwerk beispielsweise in der Detroiter Elektronikszene dafür, dass durch sie elektronische Musik transparent wurde: Als die Farbe aus der Musik von Kraftwerk verschwand, wurde ihre „Kling-Klang“-Technologie zum DiY-Baukasten für afroamerikanische MusikerInnen. Vor der Weltkarriere von Kraftwerk fand Elektronik entweder in einem akademischen Rahmen statt oder war Teil von Raumfahrtprogrammen. Das Verdienst von Kraftwerk ist ihre Überführung in Alltagskultur.

Lässiger Flow

Das bringt uns zum Dancefloor-Jahrgang 2018. Wie gestalten die „Bio-Einheiten“ von heute eigentlich Musik als fließende Kunstform? Ist elektronische Musik per se überhaupt noch zukunftsweisend? „At Ease“, möglichst ungezwungen, so hat der New Yorker Produzent Will DiMaggio sein Debütalbum betitelt, das er beim US-Label Future Times veröffentlicht hat. Der Flow seiner acht Tracks ist lässig. Wie DiMaggio in ihnen mit Beats, Synthesizer und gemuteten Stimmsamples (Youtube) hantiert, mit dem Ribbon-Control-Stick seines Keyboards Melodien verwischt, so dass ihre Harmonien wie Echos von Berggipfel zu Gipfel wandern, macht staunen.

Noch etwas: Es fällt kein Wort auf „At Ease“. Und doch verrät die Musik von Will DiMaggio Elementares: Sie schaltet den akustischen Sprachmüll, der uns in Dauerschleife suggeriert, wir hätten die Welt so hinzunehmen, wie sie ist, auf Snooze. „At Ease“ macht aus Stimmsamples Hooklines, eine Form stummer Verständigung. Man kann dazu wunderbar die Klappe halten und die Seele baumeln lassen.

Mann mit Basecap steht neben einem Bild

Ungezwungen, aber groovy: Will DiMaggio Foto: Future Times

Wie DiMaggio das Summen von Stimmen mit einem Synthesizer emuliert und darauf herumimprovisiert, wirkt zurückhaltend und verdaddelt zugleich. DiMaggio deutet auf seinen Tracks Melodien nur an, er verliert sich in ihrer Schönheit, aber das genügt schon, um Sinnlichkeit zu kreieren. Er gilt als versierter DJ, der langsame Übergänge und Build-ups pflegt, aber nie dem Geistesblitz einer quer zum Mix liegenden Platte abgeneigt ist. Und genau dieses sanfte Aufschaukeln und ruckartige Abbiegen vollzieht er auch in seiner Musik. Stilistisch völlig offen, so wie in seinen DJ-Sets, wo er alte Ragga-HipHop-Instrumentals auf Gospel und Jazz prallen lässt.

Will DiMaggio: „At Ease“ (Future Times)

Jon Dixon: „Erudition. A Tribute to Marcus Belgrave“ (Planet E)

rRoxymore: „Thoughts of an Introvert 1&2“ (Don’t be afraid)

DJ Richard: „Dies Irae“ (Dial/Kompakt)

Galcher Lustwerk: „200% Galcher“ (https://lustwerkmusic.bandcamp.com/album/200-galcher)

RP Boo: „I’ll tell you what!“ (Planet Mu/Cargo)

Die Ehre erweisen

So hat DiMaggio zuletzt auch einen Track des Detroiter Produzenten und Pianisten Jon Dixon aufgelegt: „Erudition. A Tribute to Marcus Belgrave“. Einen Technotrack „Gelehrsamkeit“ zu nennen, mag abwegig erscheinen. Dixon, der zum Detroiter Kollektiv Underground Resistance gehört, erweist damit seinem Lehrer, dem Jazztrompeter Marcus Belgrave (1936–2015), die Ehre. „Erudition“ basiert auf einem Gespräch. Anstelle von Gesang ist Belgrave zu hören, wie er über seine Genese als Künstler in der Musikmetropole Detroit und die Traditionen von Jazz spricht.

Dazu pumpt ein 4-to-the-Floor-Beat, unter den Dixon Blue Notes auf dem Piano zieht. Ging es bei Underground Resistance darum, in der Zukunft zu verschwinden, um Black Power in der Musik aufgehen zu lassen, ist „Erudition“ eine neue Form von Oral-History-Musik, in ihr zeigt sich der Wille, die schwarzen Jazzwurzeln in der elektronischen Musik hörbar zu machen und als Ausdruck von gelebtem Leben mit ins Morgen zu nehmen.

Jazz und Elektronik stehen auch für die französische Produzentin rRoxymore keineswegs im Widerspruch. Ursprünglich stammt Hermione Frank aus Montpellier. Nach einer Zwischenstation in Paris, wo ihr ein HipHop-Aficionado erste Schritte am Mischpult beigebracht hat, lebt die 42-jährige Produzentin seit 2012 in Berlin. Ihr Künstlername spielt mit oxymore, französisch für Oxymoron. „Thoughts of an Introvert“ hat Frank eine Serie von 12inches genannt, die ersten beiden Teile sind nun beim britischen Label Don’t be Afraid veröffentlicht. Spiralenförmig verspult kommt der Sound von rRoxymore daher.

Frau sitzt vor einer Wand

Es rRRRolllt: rRoxymore Foto: Tonje Thilesen

Und ein bisschen subversiv: Das Blinken und Klopfen, Pochen, Heulen und Schrillen des elektronischen Geräteparks, längst hat er unseren Alltag kolonialisiert. Aber rRoxymore versteht es, mit seinem unangenehmen Klangpotenzial zu improvisieren und in ihren tänzelnden Tracks oftmals das Musikalische aus nervtötenden Betriebsgeräuschen herauszuholen: Störsignale und Erkennungstöne als Nebenwirkungen der Mensch-Maschinenmusik. Darauf musste erst eine große französische Introvertierte namens rRoxymore kommen.

Spasmen und andere Belastungen

Dass der elektronische Alltag im 21. Jahrhundert ökonomisch, technologisch und sozial beschleunigt sein würde, führe zu Spasmen, hat der französische Psychoanalytiker Félix Guattari in seiner Schrift „Chaosmose“ 1992 prognostiziert. Es geht nicht nur um Krämpfe, für Menschen ergeben sich daraus zunehmende nervliche Belastungen, weil sie in Netzwerkstrukturen dem öffentlichen Druck stärker ausgesetzt sind. Als Antwort auf das Stand-By-Delirium eignet sich „Dies Irae“, das zweite Album des New Yorker Produzenten DJ Richard beim Berliner Label Dial durchaus. Düster und bedrohlich rumort sein Technosound. Zum Teil verweigert Richard den Tracks gar die Beats und lässt seine Hooklines abgekapselt von jedem Rhythmus trudeln. Das Nachtschwarze seines Sounds klingt auch so kraftvoll in seiner dystopischen Wucht, getreu dem Titel „Dies Irae“, einem Hymnus der Totenmesse im Mittelalter.

DJ Richard kommt aus Rhode Island und war zuerst Teil der Noise-Szene, bevor er Techno für sich entdeckte und mit Freunden 2012 das Label White Material gründete. DJ Richards Labelkollege Galcher Lustwerk hat nun seinerseits ein neues Album veröffentlicht: „200 % Galcher“ wirkt auf die Zumutungen der Gegenwart wie ein krampflösendes Mittel. Der New Yorker pflegt eine minimalistische Version von HipHouse: karg möblierte Instrumentals mit eleganten Jazzsamples und Lustwerks Sprechstimme als Klangsignatur.

Ein nasales Lallen, beeinflusst vom coolen Punch des Rappers Rakim. Nur tischt Galcher keine Storys auf, er klingt nach Selbstgespräch und Therapiesitzung. Entweder redet er in den Tracks drauflos wie ein Stummer und ergeht sich in Allgemeinplätzen wie „Catch me if you can“, oder er ringt scheinbar nach Worten, verschluckt Silben, bricht Sätze ab, zerbricht sich den Kopf über „Wristbands“, wird aber vom gnadenlosen Beat zum Weiterplappern getrieben. Auch bei ihm ist das affirmative Moment von Dancefloor einem Zustand von Vereinzelung und emotionaler Verwüstung gewichen. Hier spricht das somnambule Party-Gewissen.

Mann steht auf einem Dach, hinter ihm Möwen

Über den Dächern New Yorks: Galcher Lustwerk Foto: Lustwerk Records

Im Sommer 2018 regieren auch sinistre Sounds auf dem Dancefloor: „Der wohlhabenste Ort der Welt ist der Friedhof“, lässt uns der Chicagoer Produzent RP Boo in den Linernotes seines Albums „I’ll tell you what!“ wissen. Nicht wegen der noblen Grabbeigaben, der US-Künstler sieht das verschenkte Kreativpotenzial der Leichen. „Beim Musikmachen geht es nie um mich, sondern um meine Hörerinnen. Ich werde mit leeren Händen sterben und vorher alles Kreative verschenken.“ RP Boo ist Pionier der Footworkszene. So genannt, weil Bässe und Beats erhebliche Beinarbeit von Tänzern erfordern. Von Boos Bässen und Stotterstimmenkaskaden werden die Toten auf alle Fälle lebendig. Und die Lebenden können entfesselt rumhüpfen, erstarrt vor Glück. Davon zeugen die zwölf rasend ratternden Tracks auf „I’ll tell you what!“: Es muss nicht immer ein Gesamtkunstwerk sein, manchmal genügt eine Hüpfburg.

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