Das A-Team der Hacker-Szene: Das Anonymous-Prinzip

Das Kollektiv von Hacktivisten wirkte lange wie ein riesiger Schwarm. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Anonymous' größte Stärke ist die Manipulation der Wahrnehmung.

Guy-Fawkes-Maske, das Symbol der Anonymous-Aktivisten. Bild: dapd

Vor zwei Jahren bin ich in die Welt von Anonymous eingetaucht. Die Zeitungen präsentierten sie als mysteriöse Hacktivismus-Bewegung, über die nur wenige Außenstehende Näheres wussten. Ich beschloss, ihre Mitglieder kennenzulernen, ihre Geschichten zu erzählen und herauszufinden, wie sie arbeiten.

Im Laufe eines Jahres habe ich die Erfahrungen von einigen der berüchtigtsten Anonymous-Unterstützer zusammengetragen und in dem Buch „We Are Anonymous“ veröffentlicht. In dieser Zeit beobachtete ich, wie junge Männer zu wichtigen Organisatoren des Kollektivs aufstiegen. Wie sie ihre Splittergruppe LulzSec gründeten. Wie sie einander in den Rücken fielen und verhaftet wurden.

Ich begann meine Nachforschungen im Dezember 2010, als Anonymous erstmals mit seinen Attacken in den Schlagzeilen auftauchte, mit seinen Angriffen auf die Bezahldienste PayPal, Mastercard und Visa. Damit wollte Anonymous die Whistleblower-Plattform Wikileaks verteidigen.

Ich kontaktierte die Gruppe über die offizielle E-Mail-Adresse der AnonOps, die sich damals als Eliteeinheit von Anonymous präsentierten. Die Person hinter der E-Mail-Adresse erzählte mir, dass Anonymous dem Imageboard „4chan“ und einer Onlinesubkultur entsprang. Wir skypten. Es war mein erster Kontakt mit dem heimlichen Pressesprecher von Anonymous. Er nannte sich Topiary.

Später ist Topiary festgenommen worden. In zwei von vier Anklagepunkten wegen Hackens hat er sich inzwischen schuldig bekannt. Jake Davis, so sein richtiger Name, ist ein schüchterner 19-Jähriger von den britischen Shetlandinseln.

Parmy Olson ist Redakteurin des Forbes Magazine, neuerdings in San Francisco, von 2008 bis 2012 Leiterin des Forbes Magazine in London. 2012 erschien ihr Buch „Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands“ (Redline Verlag).

Vor 18 Monaten, als er allein in einem Holzhäuschen saß und von kleinen Nebenjobs und Sozialhilfe lebte, schrieb Topiary Pressemitteilungen für Anonymous. Bediente ihre offiziellen Twitter-Accounts. Und sprach mit Journalisten aus der ganzen Welt.

Er war online sehr beliebt, deshalb war er Organisatoren von Anonymous aufgefallen, darunter auch einigen Operatoren des Chat-Netzwerks, über das das Kollektiv hauptsächlich kommunizierte. Sie luden Topiary in ihre privaten Chatkanäle ein und gewährten ihm Einblick in die bislang dramatischste Attacke von Anonymous – die gegen den Bezahldienst Paypal.com.

PayPal-Attacke

Direkt nach dieser Attacke im Dezember 2010 gingen die Medien ebenso wie viele Anonymous-Anhänger davon aus, Paypal.com sei von ein paar tausend Freiwilligen lahmgelegt worden. Mittels eines einfachen Programms namens LOIC, das man sich im Internet herunterladen kann. Mit dessen Hilfe, so glaubte man, hätten Anonymous-Anhänger massenweise die PayPal-Seite mit Internetanfragen überschwemmt und so überlastet.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Auch mit 5.000 Nutzern, die gleichzeitig massenhaft Anfragen abfeuerten, war LOIC nicht stark genug, um eine Seite wie PayPal komplett außer Gefecht zu setzten. Tatsächlich lahmgelegt wurde die Seite, weil zwei Anhänger mitmachten, die Botnetze besaßen – mächtige Netzwerke aus Zehntausenden gekaperten Computern, die sie für ihre Zwecke fernsteuern können.

Nur dank dieser Unterstützung konnten die Anonymous-Organisatoren verkünden, man habe erfolgreich die Webseiten von PayPal, MasterCard und Visa abgeschossen.

Die Operatoren des Anonymous-Chatnetzwerks und die wenigen Eingeweihten wussten von den Botnetzen, schwiegen aber. Denn sie wollten den Anschein wahren, dass die Macht von Anonymous auf Tausenden Menschen beruht, die zusammenarbeiten. Die Anonymous-Anhänger sollten glauben, dass sie gemeinsam etwas bewirken können – und der Gruppe treu bleiben.

Eine Lektion, wie die Macht von wenigen viele manipulieren kann.

Blendwerk und Illusionen

Topiary merkte bald, dass die Organisatoren mit der Wahrheit über die tatsächliche Feuerkraft von Anonymous hinterm Berg hielten. Sie ermutigten die Unterstützer sogar, die LOIC zu verwenden, obwohl sie weitgehend uneffektiv war und ihre Nutzer in Konflikt mit Gesetzen bringen konnte.

Trotzdem schrieb Topiary eine Pressemeldung, in der er den Medien die PayPal-Attacke als Beispiel für die Macht des „Schwarms“ Anonymous verkaufte. Topiary glaubte, es sei wichtiger, das Bürgerwehrmotiv von Anonymous hervorzuheben, als die eher nüchterne Wahrheit zu erzählen.

Das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Anonymous’ größte Stärke demonstrieren: die Manipulation der Wahrnehmung. Auf Twitter, in Pressemeldungen und Interviews mit Journalisten übertrieben Anonymous-Anhänger oft die Macht des Kollektivs. Sie nutzten aus, dass die Öffentlichkeit fürchtet, was sie nicht kennt.

Ein Coup gegen Sicherheitsfirma

Es dauerte nicht lange, und Topiary lernte eine Gruppe talentierter Hacker aus Anonymous-Zirkeln kennen. Als kleine Gruppe führten sie mehrere Cyberattacken durch – unter anderem Anfang 2011 gegen die IT-Sicherheitsfirma HBGary Federal.

Das war ein öffentlichkeitswirksamer Coup, weil er so wahrgenommen wurde, als hätte die mysteriöse internationale Hackergruppe Anonymous Korruption bei einer Computersicherheitsfirma in Washington aufgedeckt. Tatsächlich war es aber erneut eine kleine Truppe, die Anonymous mächtig erscheinen ließen. Fast heldenhaft.

Die Attacke auf HBGary schweißte Topiary und seine Clique noch enger zusammen. Sie gründeten die Splittergruppe LulzSec. Freie Agenten von Anonymous auf der Suche nach Spaß, berühmt und berüchtigt wollten sie sein. Sie griffen bekannte Ziele wie den Elektronikkonzern Sony, die US-Fernsehsender PBS und Fox sowie die CIA an. Binnen 50 Tagen schafften sie es häufiger in die Schlagzeilen, als es Anonymous je gelungen war.

Riskante Eitelkeiten

Die Idee der Anonymität warfen die Jungs von LulzSec mehr und mehr über Bord: Sie lebten ihre Online-Alter-Egos weiter aus, sie verwendeten über Monate hinweg die gleichen Pseudonyme. Vor allem Topiary und der in Anonymous-Kreisen berüchtigte Sabu konnten es nicht ertragen, ihre Decknamen zu verbrennen, obwohl sie dadurch schwerer zu erwischen gewesen wären.

Es war ihnen schwergefallen, sich in der „wirklichen Welt“ selbst zu finden. Online aber, in einer Community, die sich selbst als Antihelden und Bürgerwehr sah, hatten sie jetzt ihre Rolle und ihren Zweck gefunden. Mehr noch, sie waren berühmt.

Und dann implodierte LulzSec. Die Freundschaften brachen auseinander, als es brenzlig wurde. Die Mitglieder der Gruppe wurden nach und nach von der Polizei in den USA und Großbritannien festgenommen. Es kam heraus, dass Sabu als Informant für das FBI gearbeitet hatte. Über Monate hinweg.

Jake „Topiary“ Davis und drei andere junge Männer wurden wegen einer Reihe von Vergehen angeklagt, die sie als Teil von LulzSec und Anonymous verübt haben sollen. Ihr Verfahren beginnt im April 2013 in Großbritannien.

Vorbild abgestürzt

Von einigen Attacken abgesehen ist es seit der Zerschlagung von LulzSec ruhig um Anonymous geworden. Teils sind die Anhänger erschüttert, weil eines ihrer charismatischsten Vorbilder, Sabu, ein Spitzel war. Teils sind sie von der hohen Wahrscheinlichkeit abgeschreckt, selbst verhaftet zu werden.

Es ist unmöglich vorauszusagen, in welche Richtung Anonymous sich entwickeln wird. Vielleicht wird es nie wieder eine Gruppe wie LulzSec geben, es kann sein, dass die Zeiten ihrer aufsehenerregenden Angriffe vorbei sind.

Die Geschichte wird Anonymous wahrscheinlich als eine Phase betrachten, ähnlich wie die Bewegungen im Dunstkreis der Hippies, Bürgerrechtler oder Vorkämpfer für das Frauenwahlrecht. Und so wie diese die Welt verändert haben, kann die Bewegung der Hacktivisten und Trolle von Anonymous vielleicht dazu beitragen, in ein Zeitalter einer ausgeprägteren Netzwerkintelligenz einzutreten.

Eine „Do-ocracy“

Dank des Internets werden Institutionen aus dem industriellen Zeitalter auf der Basis von modernen Prinzipien generalüberholt. Einer der positiven Aspekte, die ich in Anonymous gesehen habe, ist eine Community ohne Anführer. Eine „Do-ocracy“, also eine Gemeinschaft, in der Verantwortlichkeiten nicht bei gewählten Vertretern liegen, sondern bei den Personen, die sich ihre Aufgaben selbstständig aussuchen und handeln.

Diese Community wurde nicht von einer Person geschaffen, sondern von vielen Gruppen von Nutzern, die die Welt um sich herum aus unterschiedlichen Gründen aufsprengen wollten. Das deutet nicht nur auf eine Revolution des Aktivismus hin, sondern auch auf eine Art und Weise, wie wir uns organisieren. Hört sich chaotisch an? Stimmt. Aber waren Revolutionen je anders?

Übersetzung: Alexandra Friedmann

Dieser Text erscheint in der sonntaz vom 29. Dezember. Ein ganzes Heft zur Frage: Wem gehört da Internet?"

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