Das Magazin „Kultur & Gespenster“: Triebrichtung und Adornos Fanpost

„Kultur & Gespenster“ fungiert als intellektueller Rettungsdienst. Der Titel „Stabile Seitenlage“ ist kein Hinweis auf lebensrettende Maßnahmen, sondern auf Ausreißer intellektueller Art.

Die stabile Seitenlage will gelernt sein. Bild: dpa

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Kultur & Gespenster trägt den Titel „Stabile Seitenlage“, und wenn das Assoziationen mit einer Publikation des Rettungsdienstes weckt, dann ist das nicht verkehrt. Nur liegt das Interesse der vom Hamburger Textem Verlag herausgegebenen Zeitschrift nicht auf Autobahnen. Sie selbst bezeichnete sich einmal als „Katalog gegenwärtiger ästhetischer Praxis und Theorie“. Wenn es also hier um lebensrettende Maßnahmen nach Unfällen geht, müssen damit Ausreißer intellektueller Art gemeint sein.

Zum Beispiel die „broken-windows-theory“. Sie besagt, dass, wo Graffiti Straßen säumen, wo Kaugummis kleben oder Müll neben der Tonne liegt, eine höhere Kriminalität herrscht. In einem Gespräch erörtern Joachim Häfele und Marie Luise Birkholz den Einfluss dieser Theorie auf die gegenwärtige Stadtentwicklung.

Mittlerweile sei sie zum Leitkonzept der Stadtentwicklung unter dem Paradigma der Kontrolle avanciert. Monochrome Fassaden und geschlossene Flächen seien folgerichtig die dominanten Merkmale heutiger Architektur-Regime. Allein: In ihrer Sterilität provozierten sie erst den Eindruck von Unordnung. Da mutiert alles zu Unkraut, selbst der „Risikofaktor Mensch“. Dass der Sterilitätswahn bis in deutsche Wohnzimmer gelangt sei, sieht Birkholz darin bestätig, dass der Verbrauch klinischer Reinigungsmittel in Privathaushalten zunehme.

Es ist eine paradoxe Situation: Während überall Abweichung gefordert wird – und sei’s nur der Iro im Bewerbungsgespräch – scheint die Toleranz gegenüber Differenz zu schwinden. Zumindest aber ist sie im Neoliberalismus vollkommen neutralisiert und lässt sich einspeisen in ökonomische Verwertungszusammenhänge. Pierangelo Maset und Daniela Steinert von der Leuphana-Universität Lüneburg liefern in dieser Hinsicht eine längst überfällige Sprachkritik der „unternehmerischen Universität“. Kreativität, Selbstverwirklichung, Freiheit – sie nennen es „Wording“, in dem die Ausbeutungsimperative der neoliberalen Leistungskultur gründen. Abweichung, unbedingt auch kritisch sein, nur zu, aber bitte nur, wenn sie direkt umgemünzt werden kann und die Universität als Marke, zu der sie im „akademischen Kapitalismus“ (Richard Münch) gerinnt, zum Leuchten bringt.

Neben ihrem Engagement in Sachen Institutionskritik kümmert sich die Zeitschrift Kultur & Gespenster auch um die Pflege von Denkmälern der kritischen Tradition. Philipp Felsch und Martin Mittelmeier kommentieren einen Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und seinen Lesern. Mit archäologischem Gespür versuchen sie die Figur des universellen Intellektuellen freizulegen, die in der Lawine der subjektkritischen Attacken des französischen Poststrukturalismus spätestens in den 70er Jahren verschütt ging. Zu Tage fördern sie einen Adorno, der sich umgänglich zeigt.

Egal ob es um die Verhinderung eines Straßenbaus in Amorbach im Odenwald oder um einen ratsuchenden homosexuellen Studenten geht, der Hinweise auf eine Homosexuellenzeitschrift bei Adorno erbittet. Während Adornos Engagement sich ungebremst gegen den Straßenbau richtet, der die „Amorbacher Kulturlandschaft aufs empfindlichste verletzen würde“, fällt die Antwort an den Studenten verhaltener aus. Er kommentierte: homosexuelle Zeitschriften sind nur „kommerzielle Ausbeutung irgendwelcher Triebrichtungen“. Das sind überraschende Briefe, die hier in Faksimile vorliegen.

Apropos intellektuelle Ausreißer: Dass der Job dieser Zeitschrift als intellektueller Rettungsdienst zermürbend ist wie beim echten Notdienst, muss wohl nicht betont werden. Wie lässig diese Zeitschrift das trotzdem macht und dabei schön aussieht und unverkrampft ist, davon kann man sich auch in der aktuellen Ausgabe ein Bild machen.

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