Das Synonym für Kinderarmut: Die Arche und die Mediensintflut

Das Kinderprojekt "Arche" in Hellersdorf wird von Medien und Promis unterstützt. Deshalb will der Bezirk die Förderung streichen.

Prominentenstelldicchein: Verena Pooth war erst Ende Novemebr in der Arche Bild: DPA

Heute gibt es Kartoffeln und Heringsfilet. Zwei Dutzend Kinder und Erwachsene sitzen auf weißen Plastikstühlen in dem großen Speisesaal. Die "Arche" hat gerade erst geöffnet, noch herrscht in dem kargen, neonbeleuchteten Kellerraum Ruhe vor dem täglichen Ansturm. "Jesus ist auferstanden", schreit plötzlich ein 15-jähriges Mädchen, als ein Fotograf mit langen dunklen Haaren und Bart in den Speisesaal kommt. Einige Kinder lachen. "Jesus ist wiedergekommen", sagt ein jüngeres Mädchen und läuft hinter dem Fotografen her. Berührungsängste mit der Presse kennen die Kinder nicht: Wenn Journalisten über Kinderarmut schreiben oder einen Film drehen, reisen sie aus aus allen Ecken Deutschlands hierher: zur "Arche" in Hellersdorf, wo Kinder täglich etwas warmes zu essen kriegen.

Auch an diesem Tag ist die Presse zu Besuch: An einem Tisch, etwas abseits, beantwortet der Pressesprecher Wolfgang Büscher beim Essen die Fragen eines Journalisten. Im Speisesaal spricht eine Reporterin mit einigen Kindern; der Fotograf im Jesus-Look knipst Pastor Bernd Siggelkow, den Gründer der "Arche", mit zwei Mädchen im Arm.

Das christliche Kinder- und Jugendprojekt ist bundesweit vielleicht das erfolgreichste und bekannteste Sozialprojekt. Es sitzt in Hellersdorf, umgeben von grau-blauen Plattenbauten - ausgerechnet in einer Ecke Berlins, in der der in der DDR zur Staatsdoktrin erhobene Atheismus noch immer zu Hause ist. "Meine Eltern mögen die Arche nicht, aber ich komme trotzdem hierher - daheim darf ich nicht beten", erzählt eine 17-Jährige.

Dass die Suppenküche jeden Mittag brechend voll ist, verwundert nicht: Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf mussten im vergangenen Jahr 44,3 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren von Hartz IV-Leistungen leben. "Zu Hause ist niemand", "meine Mutter sitzt vorm Computer", oder: "Das Geld reicht nicht für ein warmes Essen" - das sagen die Kinder und Jugendlichen, wenn man sie fragt, warum sie in die Arche kommen. Da ist es auch egal, dass die Ersatzfamilie eine kirchliche ist. Und je später im Monat, desto größer der Andrang: Kommen am Anfang des Monats 200 Kinder, stehen am Ende doppelt so viele in der Schlange.

Pastor Bernd Siggelkow isst fast immer mit den Kindern. "Na, wie läuft's in der Schule?", fragt er ein Mädchen, das mit ihm am Tisch sitzt. Von hinten boxt ihn ein Junge in den Rücken. Der schmale Mann mit der silbernen Brille lächelt - und boxt zurück. Er ist einer, der immer die Ruhe bewahrt, mit einem Lächeln, das nie aufzuhören scheint. 1995 hat der Freikirchler sein christliches Kinderprojekt gestartet. Der heute 43-Jährige arbeitete damals als Pastor in Wedding und später als Redakteur einer Tierzeitschrift. In seiner Freizeit ging er mit seiner Frau und einigen Gleichgesinnten auf die Spielplätze und lud die Kinder zum Essen in sein Hellersdorfer Wohnzimmer ein. 2001 erhielt sein Verein "Christliches Kinder- und Jugendwerk" erstmals öffentliche Gelder sowie ein leer stehendes Schulgebäude vom Bezirk. Seitdem gibt es genügend Platz; die Kinder können hier mehr als nur essen: Zwischen 12 und 18 Uhr bekommen sie Nachhilfe, sie lernen singen und Klavier spielen, sie können kochen oder tischlern. Es gibt einen Kicker und eine Theatergruppe.

Die Arche expandiert rasend schnell: War Siggelkow, immerhin Vater von sechs Kindern, vor vier Jahren noch der einzige bezahlte Mitarbeiter, arbeiten heute 25 Festangestellte in Hellersdorf - neben 14 Praktikanten und 15 Ehrenamtlichen. Seit drei Jahren gibt es ein weiteres Arche-Projekt in Friedrichshain; der Verein betreibt zudem eine Privatschule mit derzeit 41 Schülern. 2006 eröffneten Arche-Projekte in Hamburg und München, im kommenden Jahr sollen weitere in Köln, Düsseldorf und Potsdam folgen. Der gesamte Etat pro Jahr beträgt derzeit zwei Millionen Euro. Das heißt: kräftig die Spendentrommel rühren. Und dabei helfen dem Projekt vor allem die Medien.

Eine große Reportage im Wochenmagazin Stern machte die Hellersdorfer Kindersuppenküche 2005 bundesweit bekannt. "Der Bernd Siggelkow hat mich damals einfach wirklich überzeugt. Da ging es nicht um Selbstdarstellung, er wollte wirklich was für die Kinder tun", erzählt Reporterin Frauke Hunfeld. Ihre Geschichte löste eine wahre Spendenflut aus. Bis heute unterstützt die Stern-Stiftung die Arche-Projekte regelmäßig.

Das war nicht der einzige wichtige Effekt: Hatten vor der Stern-Geschichte meist nur Lokalreporter über die Hellersdorfer Hilfseinrichtung berichtet, zogen nun alle großen Sender und Zeitungen nach. Als persönliche Freunde bezeichnet Bernd Siggelkow inzwischen die Chefs der Fernsehsender RTL und Pro 7 sowie Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann. "Denen geht es nicht um große Schlagzeilen - sie sind überzeugt davon, dass wir das Richtige tun", ist sich Siggelkow sicher. Große Schlagzeilen machen sie trotzdem. Von Skrupeln, den Medien persönliche Schicksale von Kindern und deren Familien zu liefern, will der Pastor nichts hören: "Die Not braucht ein Gesicht. Erst dann werden die Menschen aufmerksam."

Für den Soziologen Klaus Schmals, der in diesem Jahr eine Langzeitstudie über die Arche veröffentlicht hat, ist die Ursache für das Medieninteresse just der Gründer selbst. "Die großen Sender brauchen Persönlichkeiten wie Siggelkow, die so beseelt von ihrer Arbeit sind, dass sie den Menschen aus dem Herzen sprechen." Er ist überzeugt von dem Projekt, bemängelt jedoch, dass die Arche oft der Versuchung, Schlagzeilen zu produzieren, nicht widerstehen könne. Auch die Arche müsse deutlich machen, dass Armut nicht nur durch Hartz IV entstehe, sondern Bildung und Religion ebenfalls eine wichtige Rolle spielten.

Auch andere Jugendeinrichtungen im Bezirk sehen die Erfolgsgeschichte der Arche mit Argwohn: "Uns ärgert, dass die Arche das einzige Projekt ist, das in den Medien präsent ist. Dadurch werden die anderen Einrichtungen in Marzahn-Hellersdorf vergessen", klagt Janett Köber, Sozialarbeiterin der Einrichtung Jugendcontainer. Das Klischee vom armen Plattenbaubezirk werde durch die Arche "unendlich vermehrt", glaubt sie.

Doch nicht nur die Medien sind dafür verantwortlich, dass die Arche beim Thema Kinderarmut omnipräsent ist. Auch die Linkspartei, die in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) die stärkste Fraktion stellt, verhalf Siggelkows Projekt vor zwei Jahren ungewollt zu großer Popularität. Berliner Politiker und Unternehmer reagierten mit Empörung, als der Bezirk die öffentlichen Zuschüsse von 36.800 auf 18.000 Euro kürzte. Die Linkspartei machte sich damals gleich doppelt unbeliebt: Der Bezirksabgeordnete Martin Uther warf dem Projekt vor, die Kinder mit Tischgebeten zu missionieren. In der Tat spielt Gott in dem Projekt eine wichtige Rolle. "Jesus gibt Halt im Leben" und andere Bibelsprüche sind an den beigefarbenen Wänden zu lesen. Vor dem Essen wird gebetet, einmal im Monat gibt es einen Familiengottesdienst, und in Gesprächskreisen lernen die Kinder Bibelgeschichten kennen. Da wirkt das das Banner über dem Arche-Eingang wie ein Aufruf an die Hellersdorfer: "Lasset die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht daran - die Bibel".

Nicht nur an der christlichen Ausrichtung nahm der linke Abgeordnete Uther Anstoss. Er warf dem Pastor vor, die nötige körperliche Distanz zu den Kindern nicht zu wahren. Diese Anschuldigungen zogen einen Aufschrei in der Presse und eine öffentliche Entschuldigung aller Parteien nach sich, Uther musste seinen Platz im Jugendhilfeausschuss räumen. Das war das Beste, was der Arche kurz vor Weihnachten passieren konnte: Die Spenden flossen. Zu den Gönnern gehören unter anderem der Lions Club, Hertha BSC und die Vodafone Stiftung. Auch viele Prominente unterstützen das Projekt: Der Showmaster Günther Jauch schrieb das Vorwort in Siggelkows Buch "Deutschlands vergessene Kinder", das dieses Jahr erschien; die Werbeikone Verena Pooth überbrachte im November ein Auto - gestiftet von der Bambi-Charity-Gala -, und Falko Götz, Ex-Trainer von Hertha BSC, fungiert als offizieller Arche-Botschafter.

Angesichts dieser überwältigenden Unterstützung will der Bezirk nun endgültig die öffentlichen Zuwendungen streichen, die sowieso nicht einmal ein Prozent des Gesamtbedarfs der "Arche" ausmachen. Im Jugendhilfeausschuss des Bezirksparlaments stimmten Grüne und FDP gegen eine weitere Förderung. "Die Arche ist nicht von den Zuwendungen abhängig. Nur um ein politisches Zeichen zu setzen, sind die Mittel leider zu knapp", begründet Christian Fender von den Grünen die Entscheidung. Die Linke hat sich aufgrund der Kritik vor zwei Jahren enthalten - und hält sich auch sonst zurück. Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke) bescheinigt dem Projekt diplomatisch eine gute Öffentlichkeitsarbeit: "Sie bringen ihr Anliegen, Kinder zur Seite zu stehen, gut rüber."

Der Vorstoß von Grünen und FDP stößt allerdings auf Kritik. Am heutigen Donnerstag diskutiert die BVV erneut über den Zuschuss - auf Antrag der SPD und CDU, die die Förderung erhalten wollen. Für Siggelkow wäre die entgültige Streichung ein Affront: "Es geht nicht um die 18.000 Euro, das sind Peanuts. Uns geht es um eine öffentliche Anerkennung. Wir übernehmen hier schließlich die Aufgabe des Staates." Angesichts der bundesweit großen Aufmerksamkeit, die seine Einrichtung bekomme, so Siggelkow, sei das Verhalten der BVV peinlich.

Der Fotograf hat immer noch zwei "Jesus" schreiende Mädchen im Schlepptau. "Ich komme hierher, um meine Freundinnen zu treffen", sagt eines der Mädchen. Und viele der Kinder kommen nicht allein. Sie bringen ihre kleinen Geschwister oder auch ihre Eltern mit. Einige sind inzwischen bei der Arche beschäftigt. Wie etwa die Mutter des Mädchen, das im Fotografen Jesus erkannt haben will. Sie hat fünf Kinder und arbeitet in der Küche der Arche. "Das ist wie in der Joghurtwerbung: Früher oder später kriegen wir sie alle", sagt Siggelkow, "weil die Probleme in unserem Land immer größer werden". Auch das wäre eine gute Schlagzeile.

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