Das Waldorf-Experiment: Brücken zwischen den Welten

An der Schule Fährstraße geht das erste Schuljahr zu Ende, in dem an einer staatlichen Schule offiziell Elemente der Waldorf-Pädagogik zum Einsatz kommen.

In der Fährstraße malen die Kinder zu jedem Buchstaben ein Bild. Foto: Darijana Hahn

HAMBURG taz | Bushra und Leon sind noch nicht ganz zufrieden. Die Rundung des Buchstaben P könnte noch besser sein. Die beiden Erstklässler knien auf dem Teppich in ihrem Klassenzimmer und justieren eine der beiden Wollschnüre, die sie grade gelegt haben. Die blaue Schnur liegt ganz gerade da, und die gelbe bedarf nur noch weniger Fingergriffe. Die Mitschüler, die auf kleinen Bänken im Kreis um den Teppich herum sitzen, schauen aufmerksam zu und geben Tipps.

Sie nicken anerkennend, als es schließlich fertig ist, das Wollschnur-P. Nachdem die Schüler das P einmal über die Bänke hinweg umkreist und von oben bewundert haben, stellen sie ihre Bänke so hin, dass sie auf die Tafel gucken können.

Auf Kissen an den Bänken kniend, verfolgen sie, wie Lehrerin Regine Göttlich ein Haus an die Tafel malt und daneben ein großes P, dessen Bauch im Dach des Hauses wohnt. Dann verteilt Kollegin Sabine Meyer kleine Tafeln, auf denen die Schüler das große und das kleine P mit Kreide nachmalen.

Bundesweit einzigartig

„Vom Großen ins Kleine“, umschreibt Meyer diese Art des Buchstabenlernens, bei dem erst nach mehreren Stadien in ein herkömmliches Materialienheft geschrieben wird. Meyer ist eine sogenannte Staatsschullehrerin, während ihre Kollegin Göttlich Waldorfpädagogin ist. Die beiden sind eines von drei Teams, die seit dem vergangenen Schuljahr den Schulversuch umsetzen, an der staatlichen Schule Fährstraße in Wilhelmsburg Elemente der Waldorfpädagogik zu integrieren.

Die Schule Fährstraße in Hamburg-Wilhelmsburg ist nicht die einzige staatliche Schule, in der Elemente der Waldorf-Pädagogik zum Einsatz kommen. Auch an der Albert-Schweizer-Schule im Hamburger Stadtteil Klein Borstel ist dies der Fall, nur, dass dort nicht explizit von Waldorf-Pädagogik gesprochen wird, sondern von der „Schule mit besonderer pädagogischer Prägung“.

Typische Waldorf-Elemente sind zum Beispiel der Epochenunterricht, bei dem sechs Wochen am Stück Themen aus einem Fachgebiet unterrichtet werden. Das dafür angelegte Epochenheft besteht zunächst nur aus leeren Blättern, die die Schüler schließlich selbst füllen und gestalten. Bevor Schüler in herkömmliche Materialienhefte schreiben, stellen sie also erst ihr eigenes Materialienheft her.

Die Schule Fährstraße wurde 1900 als „Schule III“ gegründet und war bis zur Schulreform eine Grund-, Haupt- und Realschule. Seit dem Schuljahr 2010/11 ist sie eine Grundschule und hat derzeit 270 Schüler. Im neuen Jahrgang wird es drei erste Klassen à 19 Schüler geben. Rund ein Viertel hat einen sogenannten „alternativen Bildungsbürgerhintergrund“ und trägt zur gewünschten Durchmischung der Klassen bei, in denen der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 90 Prozent liegt.

Alle Schulen in Wilhelmsburg haben den sogenannten KESS-Index-1-Faktor. Das bedeutet „stark belastete Lage der Schülerschaft“und bedingt eine höhere Mittelzuweisung.

Zu diesem bundesweit einzigartigen Versuch sah sich die Schulbehörde gezwungen, als sie den Antrag des „Vereins für Interkulturelle Waldorfpädagogik“ auf Gründung einer Waldorf-Schule in Wilhelmsburg 2011 ablehnte, um damit einer sozialen Spaltung auf der Elbinsel entgegenzuwirken.

Um aber den bildungsbewussten Eltern auch die staatliche Schule schmackhaft zu machen, und um der Schule Fährstraße im Reiherstiegviertel den lang anhaftenden Ruf einer unbeliebten Schule zu nehmen, wurde dem „Verein für Interkulturelle Waldorfpädagogik“ der Vorschlag zu der ungewöhnlichen Kooperation unterbreitet.

Kritik von Waldorf-Gegnern und -anhängern

Während Waldorf-Kritiker wie der Bremer Grundschullehrer André Sebastiani entsetzt darüber sind, dass durch eine solche Kooperation „esoterische und wissenschaftsfeindliche Ideen ins staatliche Schulwesen eingeführt“ würden, haben auch einige Waldorf-Anhänger große Bedenken.

Vom „mephistophelischen Pakt“ spricht beispielsweise ein überzeugter „Waldörfler“ in Wilhelmsburg, der sein Kind niemals in die Schule Fährstraße schicken würde – weil Staat und Waldorf unvereinbar seien. Und der sich nicht weiter und auch nicht namentlich dazu äußern möchte, weil er die engagierten Waldorflehrer an der Schule Fährstraße nicht verletzen möchte.

Christiane Leiste vom „Verein Interkulturelle Waldorf-Pädagogik“ weiß von diesem Unbehagen. Trotzdem würde die erfahrene Waldorfpädagogin die staatliche Schule nicht gegen ein „kleines, rosarotes Häuschen“ tauschen wollen, in dem sie den Unterricht zwar ohne staatliche Vorgaben machen könnte, in das aber ganz bestimmte Eltern ihre Kinder schicken würden. Sie freut sich sehr, an der Schule Fährstraße zusammen mit zurzeit sieben weiteren Waldorf-Kollegen zwischen den Welten Brücken bauen zu können.

Sowohl was die Pädagogik-Welten angeht, wie zum Beispiel das bildhafte und das Laut getreue Lesenlernen. Als auch was die unterschiedlichen Bildungshintergründe der Kinder betrifft. „Wir haben hier Kinder, die bei der Einschulung schon lesen können und Kinder, die noch nie zuvor ein Buch gesehen haben“, sagt Leiste. Für die Kinder sei es wichtig, dass die Klassen sozial durchmischt sind.

Waldorfschule mit sozialer Durchmischung

Eine Waldorfschule im Viertel mit sozialer Durchmischung – das klang auch für Natalie Rutard wie das Ideal. Die seit wenigen Jahren in Wilhelmsburg lebende Mutter hatte ihren Sohn zuerst in der Waldorf-Kita, wo sie sehr positive Erfahrungen machte.

Deswegen hat sie sich auch vom Bekanntwerden der Idee an in der Konzeptgruppe für die Integration der Waldorf-Elemente in die Schule Fährstraße engagiert und den ersten Info-Abend mitorganisiert, an dem „mindestens 100 Leute“ teilnahmen – sowohl Interessierte von außen als auch Eltern, deren Kinder schon auf die Schule gingen. Dafür musste Rutard eine resignative Stimmung in der Schule überwinden. „Das müsst Ihr gar nicht versuchen“, bekam sie zu hören, da würde „sowieso keiner“ kommen.

Ebenso unverdrossen hat die 44-jährige Elternrätin den Wechsel des Mittagessens-Caterers erkämpft. Sie habe sich nicht „mundtot“ machen lassen, sagt sie. Hartnäckig führte sie eine Umfrage unter den Eltern durch. Es kam heraus, dass ihnen eben nicht egal war, dass ihre Kinder das Essen nicht mochten und dass der Nachtisch an einer Schule mit vielen muslimischen Kindern Gelatine enthielt.

„Chaotisches Desaster“

Das unbefriedigende Essen war für Rosa van der Beek einer von vielen Gründen, warum sie ihren Sohn bereits nach dem ersten Halbjahr von der Schule nahm. „Ich empfand den Unterricht als ein einziges chaotisches Desaster, bei dem alles über Bord geworfen wurde, was vor Einführung des Versuches doch gut funktionierte“, sagt van der Beek. Sie erzählt von verunsicherten Staatsschullehrern, die ihr herkömmliches Handeln auf einmal in Frage stellten.

Dass im ersten Jahr nicht alles optimal lief, unter anderem deswegen, weil die Schulleitung vakant war, darüber ist sich auch Jochen Grob im Klaren. Seit Mai im Amt, will der neue Schulleiter nun an einer „gemeinsamen Jahresplanung und an der Entwicklung eines gemeinsamen Unterrichtes“ arbeiten. Sein Credo lautet „Adaptive Didaktik“, bei der die „Kinder nicht ans System, sondern das System an die Kinder angepasst wird“, eine Sichtweise, die er auch in der Waldorf-Pädagogik vertreten sieht.

Zum neuen Schuljahr ist nun auch die Didaktische Koordinationsstelle besetzt worden, die mehr Klarheit in das prozesshafte Ausprobieren der Vermischung der pädagogischen Welten bringen soll. Der Schulversuch ist auf acht Jahre angelegt.

Mittlerweile haben sich auch andere Eltern von Rutards Engagement anstecken lassen. In diesem Jahr haben sie zum ersten Mal während des Ramadan ein gemeinsames Fastenbrechen organisiert.

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