Debatte 9. November: Das doppelte Gedenken

Am 9. November wird an Mauerfall und die Pogrome gegen Juden von 1938 erinnert. Es wäre besser - und auch historisch richtiger - , die beiden Gedenktage zu trennen.

Um den 9. November des letzten Jahres entspann sich in Stuttgart eine Kontroverse. Der Landespresseball war auf diesen Termin gelegt worden; die Organisatoren wollten damit an den Fall der Mauer 1989 erinnern. Der Zentralrat der Juden kritisierte das als "unangemessen" und "unsensibel". Schließlich sei dies der Gedenktag für die "Reichspogromnacht", in der 1938 mehr als 400 Juden ermordet wurden und tausende von Synagogen in Flammen aufgingen - daran werde an diesem Abend in allen jüdischen Gemeinden gedacht. Als Kompromiss setzte Günter Oettinger, Ministerpräsident und Schirmherr des Landespresseballs, durch, dass der Galaabend zwar mit Variete-Künstlern und einer Flamenco-Gruppe, aber ohne Tanz statt finden sollte.

Dabei ist es längst keine Selbstverständlichkeit, dass am 9. November der Pogrome von 1938 gedacht wird. Noch vor dreißig Jahren wäre niemandem - weder auf jüdischer noch auf deutscher Seite - ein Presseball an diesem Tag besonders störend aufgefallen. Auch in der DDR wurde diesem Datum keine besondere Bedeutung zugemessen - hier galt der zweite Sonntag im September als universalistischer Gedenktag an alle Opfer des Faschismus, obschon die Betonung auf den verfolgten Kommunisten lag. Nicht, dass das Datum der deutschen Pogromnacht unter Juden je in Vergessenheit geraten war. Aber Karriere als Gedenktag hat der 9. November erst in den letzten fünfundzwanzig Jahren gemacht.

Es gibt noch zwei weitere Jahrestage, an denen der Opfer des Nationalsozialismus erinnert wird. Da ist der Apriltag, nach dem jüdischen Kalender der 27. Nisan, an dem der Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto gedacht wird. Er ist in Israel zum zentralen Gedenktag geworden und stellt dem Bild von den Juden, die sich als passive Opfer "wie Schafe zur Schlachtbank haben führen lassen", ein heroisches, zionistisches Narrativ entgegen. Schliesslich noch der 27. Januar, das Datum der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, seit 1996 in Deutschland der staatliche Gedenktag. Er ist ein eher blasses, ereignisarmes Datum, zumal die Einnahme von Auschwitz durch die Rote Armee kaum mehr "Befreiung" genannt werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt war das Lager weit gehend geräumt und das Gros der Überlebenden auf Todesmärschen unterwegs, die Gaskammern von den Nazis gesprengt.

Der 9. November hingegen galt, seit der Ausrufung der Republik am 9.11. 1918, schon früh als "deutsches Schicksalsdatum". In Verbindung mit Hitlers Putschversuch von 1923 war er später ein zentraler Termin im Kalender von NSDAP und SS. Doch seit der "Reichskristallnacht" von 1938 ist dieser Tag verbunden mit brennenden Gotteshäusern und Übergriffen auf ehrbare Bürger, die aus der Mitte der Gesellschaft heraus mißhandelt und abtransportiert wurden. Die Bilder von den Pogromen bieten starkes Material für das Gedächtnistheater, zumal sie Fragen von persönlicher Moral, dem-Unrecht-tatenlos-zusehen und der Kollektivschuld aufwerfen. Dabei liefern die Novemberpogrome einen überzeugenden Beweis gegen Daniel Goldhagens These von der Existenz eines "exterministischen Antisemitismus" in Deutschland, denn von einer tatkräftigen Massenbeteiligung der Bevölkerung an Mord und Drangsalierungen konnte keine Rede sein. Die meisten sahen vielmehr tatenlos zu oder hielten sich in ihren Häusern versteckt - auch dies noch eine Form der "Banalität des Bösen", die Hannah Arendt beschrieb.

Die Bildhaftigkeit dieses Gedächtnistheaters hat sich tief in die deutsche Seele eingegraben. Abgesehen von der Ignoranz eines Stuttgarter Presseballs und unabhängig davon, wie die jüdische Gemeinschaft diesen Tag begeht, wird vielerorts der Novemberpogrome erinnert - nicht auf der Ebene der großen Politik, wohlgemerkt, sondern zivilgesellschaftlich: In Erkelenz gibt es eine "Route gegen das Vergessen", in Michelbach wird an "deutsche Retter" gedacht, in Berlin gibt es einen Schweigemarsch zum Bahnhof Grunewald - und so gibt es noch viele hundert Gedenkveranstaltungen mehr, vor allem seitens der Schulen und Kirchen.

Was hat diesen Gedenktag in den letzten Jahrzehnten so attraktiv gemacht? Sein Grundstock ist zweifellos die Aura eines "deutschen Schicksalsdatums" die ihn umweht und die sich mit dem Mauerfall 1989 noch zusätzlich aufgeladen hat. Hinzu kommt, dass man sich auf die Opfer statt auf die Täter konzentrieren kann - auf Nachbarn im eigenen Ort, nicht um ferne Verfolgte auf Viehwaggons oder in KZs. Verfolgten Juden wird also als Gleichen begegnet, sie werden "einverleibt". Dazu passt es, Strassen und Plätze umzubenennen, um an jüdisches Leben zu erinnern - in Leverkusen etwa wurde am letzten 9. November beispielsweise ein "Platz der Synagoge" eingeweiht. Oder auch, wenn deutsche Manager von heute mit verfolgten Juden von damals verglichen werden.

Diese Einverleibung der Juden in eine "christlich-jüdische" Sphäre hat allerdings eine Kehrseite, die sich nach dem 11. September 2001 und der seitdem zunehmenden anti-islamischen moral panic verstärkt hat. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen von "Juden und Deutschen" oder von "jüdischen Mitbürgern" gesprochen wurde. Heute ist von "Deutschen jüdischen Glaubens" und jüdischen "Landsleuten" die Rede. Dafür polarisiert nun die Haltung zum Islam Christen und Juden gemeinsam- man denke etwa an Ralph Giordanos Äußerungen zum Moscheebau in Köln. Und in jüdischen wie christlichen Gemeinden hält sich die Bereitschaft zum interreligiösen Gespräch mit Muslimen in Grenzen - selbst dort, wo die Initiative von den Muslimen kommt.

Aber zurück zum 9. November, an dem die Erinnerung noch immer geteilt ist zwischen dem Gedenken an Mauerfall und Novemberpogrome. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnte bieten, dass die Novemberpogrome falsch datiert sind. Denn die ersten Auschreitungen begannen gleich nach dem Anschlag eines jüdischen Attentäters auf den Diplomaten Ernst vom Rath in Paris, am 7. November. Am 9. November hingegen herrschte die Ruhe vor dem Sturm. Erst als Adolf Hitler um 21 Uhr vom Tod seines Legationsrats erfuhr, ergingen kurz vor Mitternacht Befehle an örtliche Gestapo-Stellen und die Untergebenen der Gauleiter. Der Befehl zur Zerstörung der Synagogen erreichte die SS erst um 4 Uhr früh, die meisten Synagogen brannten also erst am frühen Morgen des 10. November. Auch die Plünderungen, Morde und Verhaftungen begannen erst am 10. November, am hellichten Tag. Von einer Kristall"nacht" der Pogrome kann also keine Rede sein.

Wenn wir uns also lossagen könnten vom "deutschen Schicksalsdatum" und dem Bild von der Nacht, "in der die braven Bürger in ihren Betten liegen", dann wäre das Dilemma des doppelten Gedenkens gelöst. Der 9. November könnte dann ein Tag froher Erinnerung an den Mauerfall sein. Und der 10. November wäre dann, historisch korrekt, der Tag der Erinnerung an den ersten großen Schritt auf dem Weg zum Genozid.

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