Debatte Antisemitismus an Schulen: Friedenau ist überall

Wenn jüdische Kinder und Eltern in Schulen drangsaliert werden, muss die Gesellschaft reagieren: mit Solidarität. Und mit Härte.

Angela Merkel legt einen Kranz unter die Jahreszahlen 1933-1945 der Gedenkstätte KZ Dachau

Immer mehr Fragen stellen sich, die sich nicht mit Kranzniederlegungen beantworten lassen Foto: imago/Christian Thiel

Und da sitzen sie alle wieder: die Politiker, die jüdischen Funktionäre, die zuverlässigen Freunde Israels und hyperaktive „Judenfreunde“. Nach Jahrzehnten ist das Erinnern für sie eine Routineübung. Und wenn einer wie ich sich an einem der Termine entschuldigen muss, dann kommt es ihm vor, als hätte er den Termin nicht verpasst, so vertraut sind mittlerweile die erinnerungspolitischen Rituale.

Der Termin im Bundestag ist für den 27. Januar im Handykalender als Wiederholungstermin für die Ewigkeit eingetragen, die Kranzniederlegung im Gemeindehaus ebenso. Und doch bleibt eine deutsch-jüdische Frage: Was wollen all diese Menschen? Was suchen sie hier, auf dem Friedhof des jüdischen Lebens? Wo findet man sie in der jüdischen Gegenwart? Im Armuts­alltag der jüdischen Alten, im Schulalltag jüdischer Kinder?

Es ist eine beträchtliche gesellschaftliche Leistung, mit der eigenen Geschichte ins Reine zu gelangen. Der Weg dahin war ein Ringen um die Seele dieser Gesellschaft. Und nun stehen wir am Ende dieses Wegs selbstgefällig da und müssen unerwarteterweise nicht mehr um, sondern gegen die Schatten der Vergangenheit kämpfen, die zur Gegenwart auf ­unseren Schulhöfen zu werden drohen.

Es geht hier nicht darum, unpassende Vergleiche zu ziehen. Weder steht der Holocaust vor der Tür noch leben wir in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus unseren Alltag bestimmt. Aber schon jetzt bestimmt er den Alltag vieler unserer Schüler. Und das ist schon jetzt viel mehr, als viele von uns je befürchtet haben. Der Alltag unserer Schulen ist die Zukunft unseres Landes – das ist Warnung genug. Und eine Frage, die jüdische Menschen an diese Gesellschaft richten. Es stellen sich immer mehr Fragen, die sich nicht mit Kranzniederlegungen beantworten lassen.

Koordinatensystem Klassenzimmer

Klassenzimmer sind Ursprungspunkte des Koordinatensystems einer jeden Gesellschaft; wie drei Achsen treffen dort unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft auf einander. Was die Presse vor Kurzem aus einem dieser Klassenzimmer berichtete, zeigt, dass die Koordinaten gründlich aus den Fugen geraten sind: Ein jüdischer Junge wurde an einer Berliner Schule monatelang von Mitschülern antisemitisch angegriffen; die Schule, die sich stolz „Schule ohne Rassismus“ nennt, schien überfordert, den Eltern wurde nahegelegt, den Jungen abzumelden, was sie auch taten.

Andere Schuleltern schrieben ihnen einen Brief hinterher, indem der Presse vorgeworfen wurde, den Fall übertrieben dargestellt zu haben: „Religiös bedingte Auseinandersetzungen“ könne es ja „zwischen Juden und Arabern“ geben, schließlich gebe es im Nahen Osten den einschlägigen Konflikt, warum also nicht in Berlin-Friedenau.

Welche Antworten haben wir an eine Mutter, die ihrem jüdischen Sohn beigebracht hatte, sich in Deutschland nicht, wie seine Großeltern, seiner Herkunft wegen zu fürchten, und der sie fragt, warum andere einander „Jude“ schimpfen?

Es gibt schlimmere Nachrichten als diesen einen Fall. Und die lauten: Dieser Fall ist längst Alltag. Friedenau ist überall! Seit Monaten, ja schon Jahren erreichen uns Berichte über die Zustände an deutschen Schulen: „Jude“ als Schimpfwort auf den Schulhöfen, Schüler, die sich weigern, über den Holocaust zu lernen, jüdische Lehrerinnen, die von Schülern antisemitisch terrorisiert werden.

Mag sein, dass einiges davon unbestätigt bleibt, mag sein, dass einiges pubertäres Gehabe oder Provokationen sind, die sich nicht gegen konkrete Juden richten. Doch welche Antworten haben wir an eine Mutter, die ihrem jüdischen Sohn beigebracht hatte, sich in Deutschland nicht, wie seine Großeltern, seiner Herkunft wegen zu fürchten, und der sie fragt, warum andere einander „Jude“ schimpfen?

Antisemitismus ist Gesinnung und Verhalten zugleich

Unsere Antwort kann nicht darin bestehen, dass jüdische Kinder wieder lernen, ihre Identität zu verstecken. Unsere Antwort kann sich nicht in der Empfehlung erschöpfen, dass jüdische Eltern ihre Kinder auf andere, jüdische oder private, Schulen ummelden. Das sind keine Antworten, sondern Zeichen unseres gemeinschaftlichen Versagens.

Vielerorts wird an nachhaltigen Konzepten gefeilt, um des Problems Antisemitismus auf den Schulen langfristig Herr zu werden. Doch „langfristig“ ist viel zu spät! Antisemitismus ist Gesinnung und Verhalten zugleich. Gesinnung zu ändern, braucht Zeit. Verhaltensänderung muss sofort passieren.

Gerade im Moment der kulturellen Transformation unserer Gesellschaft ist es wichtig, mit aller erzieherischen, notfalls rechtlichen Härte zu reagieren, und zwar sofort, nicht um zu bestrafen, sondern um klare Regeln zu verdeutlichen. Nur so lassen sich eine Ausbreitung und eine Normalisierung antisemitischer Verhaltensmuster stoppen.

Wichtig ist auch: Antisemitische Angriffe dürfen weder als Auswüchse der neuen Vielfalt noch als Folgen politischer Konflikte abgetan werden. Der Konsens unserer Gesellschaft, wonach Antisemitismus unter keinem Vorzeichen akzeptabel bleibt, darf nicht aufgeweicht werden.

Ausbruch aus der Komfortzone

Das wird nicht gehen, ohne dass die Mehrheitsgesellschaft sich mit jüdischen Kindern und ihren Eltern bedingungslos solidarisiert. Diese Solidarisierung könnte einigen von uns abverlangen, aus der Komfortzone des guten Multikultigewissens auszubrechen, um Position zu beziehen. Doch denen, die einen Konflikt zwischen der eigenen Willkommenskultur und klaren Ansagen gegen Antisemitismus und andere Formen der Intoleranz sehen, sei gesagt: Das eine widerspricht dem anderen nicht.

Umgekehrt: Nur wer kurzfristig klare Ansagen für ein gutes Zusammenleben zwischen verschiedenen Minderheiten und Mehrheiten macht, kann langfristig eine funktionierende Vielfaltsgesellschaft erwarten. Besorgten Eltern, die eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus der Schüler als übertriebene Stimmungsmache betrachten, könnte man sagen: Sehen Sie es als eine Übung im zivilgesellschaftlichen Widerstand für sich und ihre Kinder.

Angesichts der antisemitischen Übergriffe der Schüler geht es nicht um Antisemitismus des schulischen Umfelds, sehr wohl aber um unser aller Unbeholfenheit, Antisemitismus zu erkennen und wirksam zu begegnen. Es geht um unser vielfaches Versagen, Kinder zu schützen, die Schutz und Solidarität brauchen, weil sie das sind, was sie sind – Juden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

ist Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Autor von „Kontexte des Antisemitismus“ (Metropol Verlag 2013).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.