Debatte Ein Jahr Rot-Rot-Grün in Berlin: Pragmatismus statt Projekt

Seit einem Jahr regiert in Berlin Rot-Rot-Grün. Warum die politische Dreierkombo R2G ein Vorbild für die Bundespolitik sein kann.

Klaus Lederer von der Linken, Michael Müller von der SPD und Ramona Pop von den Grünen schauen in je ein Exemplar des Koalitionsvertrags

Vor einem Jahr in Berlin: R2G alias Rot-Rot-Grün Foto: dpa

Bei einem Diner im Frühsommer erklärte Michael Müller vor gut 150 geladenen Gästen, dass sich die Wähler daran gewöhnen müssten, dass es künftig häufiger Koalitionen aus drei Parteien geben würde. Solche Regierungen seien instabiler als die gewohnten Zweierbündnisse, fügte Berlins Regierender Bürgermeister hinzu. Man konnte das auch als dezente Drohung lesen an die kleineren Koalitionspartner Linke und Grüne – von denen prominente Vertreter im Publikum saßen –, dass sich Müllers SPD allein des Machterhalts wegen nicht alles bieten lassen würde.

Rot-Rot-Grün war damals ein halbes Jahr alt und – wie es bei Neugeborenen so schön heißt – aus dem Gröbsten raus: Mit Ach und Krach hatte das erste Bündnis dieser Art auf Landesebene unter SPD-Führung die Besetzung und rasche Entlassung des mit Stasi-Vorwürfen belasteten Andrej Holm als Staatssekretär überlebt; ein Hundert-Tage-Programm mit einigen durchaus profilträchtigen Punkten – darunter der Freizug der letzten als Notaufnahmelager für Geflüchtete genutzten Turnhallen – erfolgreich abgearbeitet; die Haushaltsberatungen konstruktiv angegangen.

In der Öffentlichkeit war indes ein anderes Bild hängen geblieben: das einer Koalition, die vielleicht durchaus etwas – bisweilen sogar viel – will, aber nicht so richtig zusammenkommt. In der es rumort, sobald etwas nicht glatt läuft. In der die zusätzlichen Gremien, die nach den Koalitionsverhandlungen eingerichtet worden waren, um Konflikte nicht eskalieren zu lassen, auch bitter nötig sind. Die immer wieder mit längst überwunden geglaubten inhaltlichen Problemen zu kämpfen hat.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Zwar gibt es wieder regelmäßig Termine auf den Bürgerämtern für banale, aber wichtige Dinge wie schlicht das Anmelden eines Wohnsitzes. Aber einige Standesämter sind so überlastet, dass sie Wartezeiten von sechs Monaten und mehr haben. Die Verliebten weichen lieber gleich auf Dänemark aus, um zu heiraten. Solche Geschichten bleiben hängen.

Dieses Bild prägt das Image von R2G – wie diese Koalition auch abgekürzt wird – bis heute. Durchaus zu Recht, wie zum Beispiel der Grünen-Landeschef Werner Graf im Gespräch mit der taz vor einigen Tagen offen zugab: „Vielleicht haben wir am Anfang der Regierungszeit geglaubt, der Tag habe mehr als 24 Stunden – das war der Euphorie geschuldet.“

Von einem linken Projekt mit innovativen Ansprüchen spricht heute keiner der Beteiligten mehr

Die Euphorie ist nach einem Jahr der Zusammenarbeit längst einem nüchternen Pragmatismus gewichen in dem Bewusstsein, dass gar keine andere Koalition möglich gewesen war nach der Wahl im September 2016. Von einem linken Projekt mit innovativen gesellschaftspolitischen Ansprüchen, wie es sich viele Linke bei SPD, Grünen und Linkspartei erhofft hatten, spricht keiner der Beteiligten mehr.

Dabei wäre es gerade jetzt nach dem überraschenden Aus für die Jamaika-Verhandlungen auf Bundesebene sinnvoll, darüber noch mal nachzudenken. Vor dem Hintergrund etwa, dass die im Frühjahr neu gewählte CDU-FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen das Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr für Arme abschaffen wollte, während die Berliner Landesregierung den Preis dafür senkt.

Wer eine Bilanz von R2G in Berlin ziehen will, muss dies vor dem Hintergrund tun, dass Dreierbündnisse bis hin zu Kenia-Modellen aus CDU, SPD und Grünen Realität sind und dass das klassische Rechts-links-Schema so aufgeweicht ist wie nie zuvor. Da versucht eine Spitzenkandidatin der Linkspartei auf Bundesebene mit rechten Sprüchen bei der AfD-Klientel zu punkten; da fragt man sich, ob die Verhandler der Grünen bei Jamaika eher rechts von der CDU stehen; da macht eine CDU-Kanzlerin die Mitte politisch platt.

Die Spannungen nehmen zu

In Berlin sind die inhaltlichen Differenzen bei Weitem nicht so groß, wie sie in einem Jamaika-Bündnis auf Bundesebene gewesen wären. Aber auch hier gilt: Strukturell wird es immer schwieriger, Koalitionen zu bilden; gleichzeitig steigen die politischen Ansprüche der Wähler und der Basis an die einzelnen Parteien in diesen Bündnissen, eigene Inhalte profiliert durchzusetzen.

Die Spannungen müssen also zwangsläufig zunehmen. Michael Müller hat mit seiner Einschätzung über die Stabilität von Dreierbündnissen recht. Man könnte also schon fast sagen: Dass Rot-Rot-Grün nicht nur durchgehalten hat bis heute, sondern sogar einige Dinge anleiern konnte, ist durchaus als Erfolg zu werten.

Aus klimapolitischer Sicht wären da zum Beispiel der Ausstieg des Landes aus der Steinkohle zu nennen und die finanzielle Stärkung des Stadtwerks. Im Kulturbereich ist es gelungen, auch Kinder- und Jugendtheater mit zusätzlichen Geldern auszustatten. In der Sicherheitspolitik liefert SPD-Innensenator Andreas Geisel nach dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz eine überraschend routinierte Performance ab, ohne in populistische Töne abzudriften.

Die SPD ist verunsichert

Absurderweise sind es ausgerechnet Müller und seine SPD, die dieses Bündnis immer wieder ins Wanken brachten. Anders als die Linke, die sich mit ihren drei Senatoren in einflussreichen Bereichen ein politisches Mammutprogramm auferlegt hat und damit auch beim Wähler Erfolg zu haben scheint; anders die Grünen, die sich – glücklich über die erste richtige Regierungsbeteiligung überhaupt in ihrer Hochburg Berlin – in parteirelevante Nischen verabschiedet haben, ist die SPD in Berlin verunsichert, was sie von dieser Regierung erwartet.

Ernüchtert durch miserable Wahlergebnisse, erschüttert vom langen politischen Duell zwischen Müller und Fraktionschef Raed Saleh; mit zwei Senatoren, die glänzen, und zweien, die nicht vorhanden zu sein scheinen, mit einer Linkspartei, die stetig in der SPD-Klientel erfolgreich wildert, sucht die SPD noch immer ihre Rolle an der Macht. Nicht unähnlich der Bundes-SPD.

So liest sich Müllers Satz von der Instabilität von Dreierbündnissen im Rückblick weniger als Drohung an Linke und Grüne, sondern als Warnung an die eigenen Genossen. Sie müssen endlich begreifen, dass in Zeiten der politischen Fraktionierung Politik sehr viel kleinteiliger verläuft.

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Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.

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