Debatte Flüchtlinge und Digitalisierung: Flucht in die Datenwelt

Die Regierung muss zur Flüchtlingsregistrierung ihre IT-Systeme modernisieren. Eine Chance, mit engagierten BürgerInnen zu kooperieren.

Ein Vater mit seinen Kindern im Hafen von Piräus.

Auf dem Weg nach Deutschland: syrische Flüchtlinge, hier im Hafen von Piräus Foto: reuters

Nach wie vor kommen täglich Tausende Flüchtlinge in Deutschland an. An jedem Bahnhof zücken sie ihre Smartphones und suchen nach einem Netzzugang, um mit ihren Angehörigen zu kommunizieren oder Informationen einzuholen. Die Aktensysteme der deutschen Verwaltung zur Bewältigung des Flüchtlingsstroms stammen dagegen aus einer Zeit, als Arbeitnehmer noch Lohntüten bekamen. Sie sind nicht digitalisiert und nicht miteinander kompatibel.

Deshalb kann zurzeit gar niemand wissen, wie viele Geflüchtete im Land sind und wo sie sich aufhalten. Der Datenaustausch zwischen den Behörden funktioniert nicht. Eine schlechte Voraussetzung dafür, die Lage in den Griff zu bekommen und die dauerhaft Bleibenden zu integrieren.

Die Bundesregierung hat das Problem erkannt und zur Chefsache erklärt. Der Informatiker Klaus Vitt, bis dato IT-Chef der riesigen Bundesagentur für Arbeit, ist ab sofort für die Informationstechnik der Bundesverwaltung zuständig. Er soll das Problem lösen und schon zu Beginn des neuen Jahres eine zentrale Datenbank zur Registrierung von Geflüchteten und zur Bearbeitung ihrer Anträge an den Start bringen. Mehrfachregistrierungen würden damit der Vergangenheit angehören. Behörden unterschiedlicher Stellen, Bundesländer und Kommunen hätten endlich Zugriff auf die selben Informationen.

Nicht ohne Zivilgesellschaft

Diese kurzfristige IT-Modernisierung ist dringend notwendig. Allerdings müsste die Bundesregierung in der derzeitigen Krisensituation eigentlich mehr daraus machen. Ein Großteil der in Deutschland hilfesuchenden Menschen wird mindestens ein Jahr bei uns bleiben. Viele länger, manche für immer. Was also nottut – und zwar von Tag eins des Aufenthalts an –, sind Maßnahmen zur Eingliederung in unsere Gesellschaft.

Der Staat allein kann diese Aufgabe nicht bewältigen. Er ist auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft angewiesen. Selbst eine Versorgung der Menschen mit Decken oder Sprachkursen können die Behörden nicht allein gewährleisten, sondern sind auf die Mithilfe Tausender engagierter Bürgerinnen und Bürger angewiesen. In einer solchen Lage der Abhängigkeit muss sich die Verwaltung Gedanken darüber machen, wie sie eine echte Partnerschaft auf Augenhöhe mit hilfsbereiten Organisationen, Anwohnern und Unternehmen eingehen kann.

Ein digitaler Zugang nutzt den Geflüchteten, der Gesellschaft und auch der Verwaltung

Auch wenn sich dieser Gedanke hier vielleicht nicht als erster aufdrängt: Die von Vitt begonnene IT-Reform im Bereich Flucht und Asyl könnte ein vielversprechendes Mittel sein, um die dringend benötigte Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft schnell in die Tat umzusetzen. Denn es sind nicht nur staatliche Stellen, die auf einen gegenseitigen Datenaustausch angewiesen sind. Auch die vielen Engagierten, Hilfsorganisationen und schließlich auch die Geflüchteten selbst brauchen einen möglichst leichten Zugang zu Informationen.

Schlaue Vernetzung

Man braucht nicht lange zu suchen, um herauszufinden, wo der digitale Zugang zu Behördendaten eine Menge bewegen könnte. Initiativen wie HelpTo.de, Workeer.de und Refugeephrasebook.de organisieren über das Internet lokale Hilfsgruppen, vermitteln offene Jobs und bieten Sprachkurse an. Könnten die Datenbanken der Verwaltung und die Plattformen der Hilfsorganisationen Informationen kontrolliert austauschen, würde die Unterstützung zielgenauer.

Denn auf einmal wüsste man, in welchen Gemeinden noch Unterkünfte, in welchen Ärzte und wo beispielsweise Sprachkursplätze für Arabischsprachige gebraucht werden. Der konkrete Nutzen offener Datenzugänge lässt sich bislang nur erahnen, birgt aber ein enormes Innovations- und Problemlösungspotenzial. Auch die Möglichkeit, im Internet den Bearbeitungsstand des eigenen Asylantrags abzufragen, gehört dazu.

Informationsplattormen, deren Grundlage auch offene Verwaltungsdaten sind, liegen im Interesse der Geflüchteten, der Gesellschaft und der Verwaltung selbst. Denn jedes Problem, das auf diese Weise gemeinschaftlich gelöst wird, braucht nicht mehr von der Verwaltung allein gelöst zu werden. Im neudeutschen Start-up-Sprech nennt man das „Crowdsourcing“. Man kann es aber auch einfach als schlau bezeichnen. Deshalb muss der Staat jetzt den informationellen Einbezug der Geflüchteten und der ihnen helfenden Initiativen mitdenken, wenn er seine Informationssysteme für viel Geld ohnehin vernetzt.

Leider hat die Bundesregierung den gesellschaftspolitischen Wert von Daten noch nicht erkannt. Vitts IT-Reform soll zunächst lediglich bestehende Verwaltungsprozesse vereinheitlichen und sie in einem zweiten Schritt auch in die digitale Welt übersetzen. So entsteht jedoch ein abgeschottetes System, das allein auf die Bewältigung möglichst großer Fallzahlen optimiert ist, aber keine innovative Kraft entfaltet und keinen Schulterschluss mit der Zivilgesellschaft ermöglicht.

Transparenz und Offenheit

Ohne die vielen engagierten Bürgerinnen und Bürger wird der Staat die Herausforderung der Masseneinwanderung mittel- und langfristig nicht bewältigen können, das zeigt sich gerade überall. Deshalb braucht es jetzt einen neuen Partnerschaftspakt zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Wie die Fluchtkrise eindrucksvoll aufzeigt, ist die Digitalisierung ein greifbares Instrument, um dieses Ziel ins Visier zu nehmen. Nicht nur in Sachen Verwaltungsmodernisierung, sondern auch im Hinblick auf Verwaltungsöffnung braucht es endlich Mut zur Gestaltung.

Ein grundsätzlicher Wandel zu mehr Offenheit würde der für ihre Verlässlichkeit weltweit geschätzten deutschen Verwaltung das geben, was ihr noch immer fehlt: Transparenz, Bürgernähe und rasche Anpassungsfähigkeit. Ein Zusammendenken der IT-Reformen der Verwaltung mit den Informationsbedürfnissen der Gesellschaft macht nicht nur die Bewältigung der akuten Herausforderungen wahrscheinlicher, sondern auch die Gesellschaft als ganze fitter für den Umgang mit zukünftigen Krisen. Ferner würde die viel kritisierte Kluft zwischen dem Staat und den Menschen überbrückt. Eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.

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