Debatte Gaza-Streifen: Israels Vietnam

Die Besatzungspolitik beschädigt Israel und nützt der Hamas. Die Regierung Netanjahu hat im Umgang mit den Palästinensern jede Distanz und jeden Überblick verloren.

Ausgrenzung mit Mauern und Zäunen: Die Besatzung des Gaza-Streifens entwickelt sich für Israel zum Desaster. Bild: reuters

Ein Krieg erzählt der Bevölkerung die Wahrheit über sie. Deshalb ist es so schwierig zuzuhören. Wir sind fest entschlossen, einen ehrlichen Blick auf den ersten Gazakrieg zu vermeiden. Und nun haben wir im internationalen Gewässern das Feuer auf eine internationale Gruppe von humanitären Helfern und Aktivisten eröffnet. Wir kämpfen und wir haben den zweiten Gazakrieg schon verloren. Für Israel wird dieser Feldzug gegen Gaza ungleich teurer und schmerzhafter werden als der erste.

Als sie den ersten Krieg gegen Gaza 2008 begannen, hofften die israelischen Militärs und Politiker, der Hamas eine Lektion zu erteilen. Das ist ihnen gelungen. Die Hamas hat gelernt, dass der beste Weg, Israel zu bekämpfen, bedeutet, Israel das tun zu lassen, was dem Land zu einer Art zweiten Natur geworden ist: zu toben, ins Fettnäpfchen zu treten, Mauern zu bauen, es mal richtig krachen zu lassen.

Die Hamas, ebenso wie der Iran und die Hisbollah, haben schnell begriffen, dass Israels Embargo gegen den von der Hamas regierten Gazastreifen die avancierteste und mächtigste Waffe ist, mit der man den jüdischen Staat zerstören kann. In Israel hingegen müssen wir unsere Lektion noch lernen. Und die lautet: Wir verteidigen nicht mehr Israel. Inzwischen verteidigen wir die Besatzung, und die wird Israels Vietnam werden.

BRADLEY BURSTON ist Kolumnist der israelischen Tageszeitung Ha'aretz. Der Text erschien dort am 31. Mai in seinem Blog: "A Special Space in Hell" (Übersetzung aus dem Englischen von Ines Kappert). Während der ersten Intifada berichtete er für die Jerusalem Post, ab Mitte der 90er Jahre dann für die Nachrichtenagentur Reuters.

Natürlich haben wir gewusst, dass so etwas passieren könnte. Am vergangenen Sonntag, als der Armeesprecher damit begann, die Hilfsflotte für Gaza als Angriff auf Israel zu bezeichnen, sprach Knessetmitglied Nachman Shai, der übrigens oberster Armeesprecher während des Golfkriegs 1991 war, öffentlich von seinem schlimmsten Albtraum. In diesem enterten israelische Truppen einen Hilfskonvoi und eröffneten das Feuer auf Friedensaktivisten, humanitäre Helfer und Nobelpreisträger.

Miri Regev vom Likudblock, die früher dem Presseamt der israelischen Streitkräfte (IDF) vorstand, sagte am Montagmorgen, dass es nun das Wichtigste sei, sich um die negative Presse zu kümmern, die müsse dringend aus der Welt geschafft werden. Doch sie wird nicht einfach verschwinden. Eines der Schiffe trägt den Namen "Rachel Corrie". Als die junge Frau sich vor sieben Jahren einem israelischen Bulldozer in den Weg stellte, wurde sie von diesem überrollt. Ihr Name und ihr Schicksal sind seitdem ein leuchtendes Symbol für die propalästinensische Bewegung.

Türkei den Krieg erklärt

Auf ominöse Weise zerstören wir schrittweise, wie in einem lemmingartigen Marsch der Dummheit, unsere Beziehungen zu Ankara. Also zu einer Regionalmacht von zentraler Bedeutung, die uns dabei hätte helfen können, nach dem ersten Gazakrieg einen neuen Weg einzuschlagen - wenn wir sie beachtet hätten. Stattdessen sind wir jetzt gefährlich nahe dran, der Türkei de facto den Krieg zu erklären. "Dieser Zwischenfall wird uns noch lange beschäftigen, zumal was die Türkei betrifft", sagte auch das Knessetmitglied Benjamin Ben Eliezer, der Minister, der bekanntlich eine außerordentliche Sensibilität für Israels Bindungen an die muslimische Welt an den Tag legt. (Eliezer plädiert regelmäßig für ein rücksichtsloses Vorgehen gegen die Palästinenser, Anm. d. Red.)

Wir erklären immer wieder, dass wir keinen Krieg gegen die Menschen in Gaza führen. Wir sagen es immer wieder, denn wir wollen es uns so gerne glauben.

Es gab eine Zeit, in der wir zu Recht behaupten konnten: Wir wissen, was wir tun in Kriegszeiten. Das ist vorbei. Jetzt wissen wir gar nichts. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir vor Gesprächen mit der Hamas und dem Iran zurückschrecken: Beide kennen uns so viel besser als wir selbst. Sie wissen, dass wir unfähig sind, uns klar zu sehen, und uns daher nicht mehr zu bremsen vermögen. Die Hamas, genauso wie der Iran, profitieren von der vergifteten israelischen Innenpolitik, die allzu leichtfertig die Zukunft belastet, um kurzfristig für scheinbare Ruhe zu sorgen. Sie wissen, dass wir verzweifelt unser Selbstbild zu erhalten versuchen und daher an der Politik festhalten werden, die ihnen, unseren Feinden, buchstäblich in die Hände arbeitet. Insbesondere die Hamas konnte sich dank der israelischen Besatzung von Gaza bereichern, Stichwort Tunnelsteuer. Der Ärger über Israel hat sie fest in Gaza verwurzelt.

Netanjahus Prüfung

Auch viele rechte Israelis haben ihre stille Freude angesichts der Scheiße, die uns gerade um die Ohren fliegt. "Wir haben es euch gesagt", frohlocken sie. "Die Welt hasst uns, egal was wir tun. Also können wir auch weiter siedeln (im Klartext: das Westjordanland und Ostjerusalem besetzen) und unsere Grenzen verteidigen (also der Hamas den Rücken stärken und uns ultimativ beschädigen, in dem wir die Gaza-Blockade nicht aufheben)."

Die Hamas, der Iran, die Israelis und der harte Kern der Diaspora wissen, das Benjamin Netanjahu vor einer enorm wichtigen Prüfung steht. Getrieben von dem Wunsch, die Aufmerksamkeit der Welt auf den Iran und dessen Bedrohungspotenzial für die israelische Bevölkerung zu lenken, muss Netanjahu erkennen, dass die Welt nun auf Israel blickt und sein Bedrohungspotenzial für die Menschen in Gaza.

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