Debatte Jugendkriminalität: Über die Verrohung

Der Fall der Münchner U-Bahn-Schläger zeigt: Exklusion veredelt nicht, sie brutalisiert. Das ist kein "Ausländerproblem" - die Ethnisierung macht die Sache nur noch schlimmer.

Als mein älterer Sohn noch etwas kleiner war, so sechs oder sieben Jahre, da fragte er mich mal beim Nachrichtenhören, was dieser Haider oder dieser Strache (wie die lärmenden Rechtspopulisten in meiner Heimat heißen) denn eigentlich wollten. Ich erklärte ihm auf meine gutmenschliche Art, die wollten, dass die Ausländer rausgeworfen werden und dass das gar nicht nett sei. Und erinnerte ihn daran, dass man Leute nicht nach ihrer Herkunft oder nach sonstigen äußeren Eigenheiten beurteilen soll, sondern danach, ob sie gute oder schlechte Menschen seien. Ja, sagte mein Sohn darauf, gemein sei das von dem Haider und dem Strache, er würde lieber den Haider und den Strache rauswerfen, aber nie und nimmer seine Schulkollegen, von denen viele von sonst woher stammen. Nein, er, er sei nicht dafür, dass die Ausländer rausgeworfen werden. Und dann dachte er einen Augenblick nach und sagte mit einem ironischen Lächeln: "Außer vielleicht die Idioten im Park."

Denn er hatte natürlich längst begriffen, dass es da eine seltsame Spaltung gibt im Park vor unserer Tür, die eine Klassenspaltung und zugleich eine ethnische Spaltung ist: die zwischen den verzärtelten Mittelschichtkindern und den, ja, etwas raueren Kindern, die in großen Trauben - man kann auch sagen: Gangs - herumziehen, wo die Sechsjährigen schon auf Macho machen, die, wenn mal ein Wort das andere ergibt, auch schneller und fester hinhauen, und wo die 16-Jährigen mit Knasterfahrungen prahlen, die sie noch gar nicht haben. Das sind die Kinder, die in Chancenarmut aufwachsen und bei denen die Eltern nicht mal mehr sagen: Lern was, damit was wird aus dir! Es sind die Kinder der neuen Unterschicht. Diese Unterschicht besteht nicht nur aus Menschen mit - wie man heute so elegant sagt - "Migrationshintergrund", aber doch in hohem Ausmaß. Und man soll da nicht blauäugig sein: Unterprivilegiertheit veredelt nicht, das tut sie nur in romantischen Charles Dickens-Romanen. In der Regel gilt: Depravierung verroht.

Aber darum geht es in den Debatten meist nicht, wenn einmal etwas geschieht. So wie jetzt, seit der Fall der beiden jugendlichen Schläger Serkan A. und Spiridon L. fette Schlagzeilen macht, die einen 76-jährigen Rentner in der Münchner U-Bahn fast zu Tode geprügelt haben. Weil der sie aufforderte, in der Metro nicht zu rauchen: Das reicht offenbar schon aus, dass alle Hemmungen fallen und Gewaltschranken und Tötungstabu nicht mehr gelten. Man muss sich das Video nur ansehen: eine scheußliche Tat.

Aber der Gewaltakt ist das eine, die Zuschreibungen sind das andere. Da sind ein paar im Umlauf. Junge Männer sind eben so, genetisch gewissermaßen, ist die These, die der Spiegel in der vergangenen Woche starkmachte. Exzentrischer die Deutungen in der militanten Nichtraucherszene: Da heißt es, Raucher hätten einen Nichtraucher niedergeprügelt. Wie man die Konfliktlinien zieht, ist also, man sieht es, eine Frage des Blickwinkels. Die Konstruktion "Raucher/Nichtraucher" erscheint wohl jedem vernünftigen Menschen als hanebüchen absurd. Andere tun das nicht, sie scheinen evidenter.

So ist dann ganz schnell von der "Ausländergewalt" die Rede. Serkan A., 20, ist ja "Türke", was heißt, dass er zwar hier geboren ist, aber die Staatsbürgerschaft eines Landes besitzt, mit dem er nichts zu tun hat. Und was vor allem heißt, dass er wohl in dem Bewusstsein aufgewachsen ist, lebenslang hier nicht "dazu"zugehören - was ja übrigens von der Staatsbürgerschaft ziemlich unabhängig ist. Der andere, Spiridon L., ist in vergleichbarem Sinn "Grieche". Bemerkenswert, dass ihn das offenbar nicht davon abgehalten hat, sich mit einem Türken zu befreunden - traditionell ja so etwas wie der Erzfeind der Griechen. Andererseits hat es offenbar ausgereicht, dass sich beide als anders, als nichtdeutsch sahen. "Du Scheißdeutscher", sollen sie den Senior angebrüllt haben, während sie auf ihn eintraten. Fremdzuschreibung und Selbstzuschreibung stehen so in einem dialogischen Verhältnis. Die Burschen machen auf harte Jungs und wenden ihr Nicht-dazugehören-Können in etwas um, worauf sie stolz sind. Und die deutsche Mehrheitsgesellschaft kann es sich mit der Überzeugung bequem machen, sie habe ja eigentlich im strengen Sinn kein Problem - sie habe nur ein Problem, weil die anderen eines haben, die Ausländer nämlich. Die haben ein Problem mit den "ausländischen Gewalttätern".

Die sollen abgeschoben oder in Erziehungslager gesteckt werden, wird jetzt fantasievoll aus der Union vorgeschlagen, zumindest aber soll das Jugendstrafrecht ordentlich verschärft werden, und die Richter mögen härter durchgreifen. Dabei sollte man besser fragen, ob der Aggressionsstau nicht auch damit zu tun hat, dass die sozialen Probleme stetig ethnisiert werden. Was eine Unterklasse der Exkludierten und Chancenlosen ist, wird mit dem Chiffre "Ausländer" versehen. Die Jugendlichen sehen sich dann selbst als "Ausländer" und entwickeln einen Hass auf alles Deutsche.

Nicht, dass es Rohheit und Gewalt nicht auch anderswo gäbe. Aber es ist kaum vorstellbar, dass ein Hispanic oder ein Sinoamerikaner sich auf einen Weißen in der U-Bahn von New York stürzt und als "Scheißamerikaner" beschimpft. Denn Amerikaner sind ja beide. Und in Frankreich sehen es die Kinder der Einwanderer als Kränkung an, dass ihnen nicht alle Chancen offenstehen wie "jedem anderen Franzosen" auch. Die Nation, in der man lebt, wird jedenfalls nicht als etwas angesehen, von dem man sich angeekelt abwendet, sondern deren Versprechen man ernst nimmt - auch wenn die Realität mit den schönen Ideen von Chancengleichheit und Brüderlichkeit nicht immer übereinstimmen mag.

Nicht aber hierzulande, wo man lebenslang "Ausländer" bleibt. Soziale Spaltungen schaffen gesellschaftliche Distanz. Wird diese Distanz aber auch noch durch ein ethnisches "Wir" gegen "Sie" verschärft, dann reißen alle Fäden. Die Ethnisierung sozialer Brandherde macht es jedenfalls nicht leichter, sie zu löschen. Freilich, man soll sich auch nichts vormachen: Die Nichtethnisierung macht sie gewiss auch nicht inexistent. Gelöst können die Probleme von Jugendgewalt, Verrohung und Zukunftslosigkeit nur werden, wenn man von früher Kindheit an alles unternimmt, solche Unterklassenkarrieren zu verhindern. Dafür braucht es Investition in Kindergärten, Förderunterricht in Schulen, kurzum: faire Chancen für die, die in Chancenarmut hineingeboren werden. Kuschelpädagogik, wie man heute verächtlich sagt.

Den Roland Kochs und all den anderen Law-and-Order-Populisten, die sich jetzt hervortun, sei aber gesagt: Einsperren macht junge Leute, die den harten Burschen raushängen lassen, meist nicht ungefährlicher, sondern gefährlicher. Gefängnisse sind keine Lehranstalten der Freundlichkeit, sondern Akademien der Gewalttätigkeit. Gewiss, Gewalttäter muss man bestrafen. Besser fährt aber eine Gesellschaft, in der weniger junge Leute in Gewaltkarrieren hineingeraten.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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