Debatte Leitkultur und Integration: Stereotype bringen nichts

Nicht nur Flüchtlinge müssen integriert werden, auch Teile der deutschen Gesellschaft. Die Komplexität der Probleme muss diskutiert werden.

Ein Gartenzwerg auf einer Wiese

Einen Gartenzwerg haben auch nicht alle mit deutscher Staatsbürgerschaft Foto: dpa

Das Thema „Integration“ hat seit Jahrzehnten unumstrittene Bedeutung. Es war bezogen auf Arbeitsmigranten. Rasanten Bedeutungszuwachs und Realisierungsdruck hat es durch die in kurzer Zeit zahlenmäßig starke Flüchtlingsbewegung spätestens seit Sommer 2015 erhalten. Gleichzeitig wurde die soziale Integration aller sogenannten ursprünglichen deutschen Bürger wie selbstverständlich vorausgesetzt, was aber so nicht zutrifft.

In einen solchem Themenzuschnitt sind gravierende Fehler eingebaut. Sie betreffen zum einen die sehr unterschiedlichen Integrationschancen und -realisierungen verschiedener Gruppierungen. Zum Zweiten betreffen sie die Qualität der politischen, zivilgesellschaftlichen und medialen Integrationsdebatte, die reich an Stereotypen und arm an angemessener Komplexität ist. Das heißt, sie wird den kommenden Aufgaben in keiner Weise gerecht.

Woran lässt sich dies festmachen? Drei Beispiele. Da ist zum Ersten die immer wieder aufflackernde Forderung nach einer deutschen Leitkultur. Sie wird immer aufgerufen, wenn es irritierende Ereignisse gibt, etwa islamistische Religionsausübung von Muslimen, die schlimmen Übergriffe von männlichen jungen Flüchtlingen in Schwimmbädern und so weiter. Allerdings gibt es nirgends eine Übereinkunft darüber, was Leitkultur denn sein kann, außer der nicht verhandelbaren Anwendung deutscher Sprache, ohne die keine Verständigung in der Arbeitswelt oder im öffentlichen Raum möglich ist.

Zum Zweiten gibt es die stereotypen politischen Aufforderungen: „Die sollen sich integrieren …“ Dazu gehören aber hinreichende Angebote, angefangen bei zur Verfügung stehenden Sprachkursen für Flüchtlinge, an denen es augenfällig fehlt. Ebenso fehlen die rechtlichen Voraussetzungen für den Beginn von Arbeitsaufnahmen auch mit niedriger Einstiegsschwelle. Wenn dies aus rechtlichen Gründen noch nicht möglich ist, dann sollten Sprüche wie „Die sollen sich integrieren …“ auch unterlassen werden. Sie sind nichts weiter als politische Drohgebärden gegenüber Migranten und Flüchtlingen und Beruhigungspillen für die Mehrheitsgesellschaft und all jene, die sich selbst desintegriert fühlen. Sie suggerieren, die aktuellen und zukünftigen Probleme seien ausschließlich aufseiten von Migranten und Flüchtlingen zu lokalisieren.

Ein drittes Beispiel sind die offen oder verdeckt erhobenen rigiden Assimilationsaufforderungen an Migranten und Flüchtlinge. Damit sind Übernahmen verallgemeinerbarer deutscher Gewohnheiten gemeint, die es in dieser differenzierten Gesellschaft aber gar nicht mehr gibt. Es geht um die identitätsverletzende Aufgabe von kulturell eingewobenen und gerade in fremder Umgebung sicherheitsspendenden Gewissheiten. Hier werden autoritäre Versuchungen zur homogenisierten Gesellschaft sichtbar, für die rechtspopulistische Bewegungen bereitstehen. Diese Aufforderungen führen gerade nicht zur Neugier auf die Teilnahme und Teilhabe im öffentlichen Raum – sondern im Gegenteil zu Rückzug und Abschottung.

In solchen immer wiederkehrenden Stereotypen wird deutlich, dass die politischen und medialen Eliten die Charakteristik dieser modernen, hochdifferenzierten und multikulturellen Gesellschaft entweder nicht begriffen haben oder nicht wahrnehmen wollen. Denn dazu gehören wenigstens zwei zentrale Strukturelemente. Erstens gibt es basale Grundnormen, die nicht verhandelbar sind. Dies sind die Gleichwertigkeit sowie die psychische und physische Unversehrtheit aller Menschen, die im Gemeinwesen leben. Zweitens ist jede moderne Gesellschaft eine Konfliktgesellschaft, weil sonst kein geregelter sozialer Wandel möglich wäre, um über Lebensstile, Umgangsformen, Ausübung religiöser Gewohnheiten zu streiten, um nicht Gefahr zu laufen, in höchst brenzlige Entweder-oder-Konflikte zwischen Gruppen zu geraten.

Dabei sind alle Gesellschaften und ihre Institutionen dazu aufgerufen, ihre Grundnormen, das heißt notwendige Verhaltensformen – die auch sanktioniert werden – immer wieder öffentlich zu verdeutlichen; sei es durch Gesetze oder öffentliche Debatten. Aber sie müssen dann der Differenziertheit dieser Problemlagen gerecht werden, um nicht die aktuellen Kämpfe um eine Verschiebung in Richtung homogenisierender Lebensvorstellungen offen oder verdeckt zu unterstützen.

Mein Vorschlag ist, nach drei zentralen Bereichen zu unterscheiden, die gesellschaftliche Teilbereiche abbilden, und zwei Ebenen zu benennen, die objektive Gelegenheitsstrukturen und jeweils subjektive Anerkennungsquellen abbilden.

Der erste Bereich ist selbstverständlich der ökonomische, um über Zugänge zum Arbeits- und Wohnungsmarkt die eigene Unabhängigkeit zu erarbeiten sowie gleichzeitig Anerkennung zu erwerben und zu genießen.

Der zweite Bereich bezieht sich auf die politische Mitwirkung, das heißt, bei öffentlichen Angelegenheiten als Einzelner oder als Gruppe eine Stimme zu haben, wenn es etwa um Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness geht – und wahrgenommen zu werden. Erst dadurch entsteht moralische Anerkennung, um wichtiger Teil eines Gemeinwesens zu sein oder zu werden.

Drittens geht es um Sicherung der individuellen und kollektiven Identität der eigenen religiösen oder ethnischen Gemeinschaften. Dies signalisiert dann auch emotionale Anerkennung.

Integrationsverweigerungen oder Desintegrationserfahrungen mitsamt dazugehörenden Anerkennungsdefiziten führen zu Rückzügen und Gegnerschaften zwischen Gruppen – mitsamt der Gefahr ungeregelter Konflikte

Es sind also Kopplungen objektiver Bedingungen und Gelegenheitsstrukturen mit subjektiven Anerkennungen der sozialen Umgebung nötig, um der Komplexität von Integrationsprozessen gerecht werden zu können.

Integrationsverweigerungen oder Desintegrationserfahrungen mitsamt dazugehörenden Anerkennungsdefiziten führen zu Rückzügen und Gegnerschaften zwischen Gruppen – mitsamt der Gefahr ungeregelter Konflikte.

Was bedeutet das für die politischen und zivilgesellschaftlichen Anstrengungen sowie sensible mediale Begleitungen?

Wir haben nicht ein Integrationsproblem, sondern ein dreifaches mit unterschiedlichem Gewicht. Das gewichtigste und schwierigste ist offenkundig die Bereitstellung von Gelegenheitsstrukturen und Anerkennungsmöglichkeiten für Flüchtlinge. Hinzu kommen immer noch Integrationsprobleme bei schon länger anwesenden jungen Migranten. Schließlich – und das wird leichtfertig übersehen – sind auch Teilgruppen der ursprünglichen deutschen Bevölkerung im Sinne dieses Integrationskonzepts nicht integriert und empfinden Anerkennungsdefizite.

Dass dies zum Teil dramatische Folgen hat, ist unübersehbar. Zu besichtigen ist es an den Erfolgen rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien, die Angst vor sozialer Desintegration, die Benennung kultureller Überfremdung sowie die Denationalisierung von Politik („Brüssel“) durch die Flüchtlingsbewegung mit einem emotional ausbeutbaren Signalereignis wie „Köln“ zusammenbinden. Dadurch wird eine Wucht entfaltet, die bisher geltende Normalitäten aggressiv verschiebt und allmählich „neue“, zum Teil feindselige Normalitäten erzeugt. Das Fatale muss man immer wieder betonen: Alles, was als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren.

Bisher wird die Bedeutung von unterschiedlichen Anerkennungsquellen für die drei genannten Teilgruppen dieser Gesellschaft von politischen, intellektuellen und medialen Eliten schlicht unterschätzt. Von einer Kultur der Anerkennung ist ohnehin keine Rede. Aber gerade diese subjektive Seite von Integration ist von größter Bedeutung für die Anerkennung der genannten gesellschaftlichen Grundnormen. Zwischen der Anerkennung der eigenen Gruppe und der Anerkennung von Grundnormen und anderen Gruppen besteht ein Wechselverhältnis. Dies ist allerdings höchst störanfällig.

Es ist dringend notwendig, die Komplexität der Probleme auf die Tagesordnung zu setzen, statt stereotyp die alten Formeln zur Beschwichtigung von rabiat auftretenden Gruppen zu wiederholen. Diese Formeln sind inzwischen hohl und führen zu neuen Verhöhnungen demokratischer Politik. Zumal die Kristallisationspunkte von Konflikten in Städten und den ohnehin schon belasteten Stadtteilen absehbar sind.

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geboren 1945 in Nettelstedt, ist Autor zahlreicher Bücher und Studien. Von 1996 bis 2013 war er Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Seit 2013 ist er dort Senior Research Professor. Er war vor seiner Hochschullehrerkarriere als Schriftsetzer in der Druckindustrie und kurzzeitig als Hauptschullehrer tätig. Bis zu seinem Austritt wegen der Asylpolitik seiner Partei 1992 war er Mitglied der SPD.

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