Debatte Russland: Kaukasisches Roulette

Russland braucht den Westen als Feindbild. Die USA wollen ein zerstrittenes Europa, um ihre Machtposition zu sichern. Die Nato ist eine völlig überalterte Institution.

Abgesehen von den übertriebenen Versuchen der Amerikaner und der Osteuropäer, den georgischen Präsidenten Saakaschwili als Opferlamm hinzustellen, wird von westlicher Seite im Kaukasuskonflikt nichts Wesentliches falsch gemacht. Trotzdem können die Bemühungen die dramatische Verschlechterung der Sicherheit in der Region nicht ungeschehen machen. Insofern wird man das Gefühl nicht los, Ersatzhandlungen beizuwohnen. Die westliche Geschäftigkeit scheint mitunter vor allem über die eigene Ratlosigkeit hinwegtäuschen zu sollen.

Nun geht das Gespenst eines neuen Kalten Kriegs um in Europa. Die Ironie der Eskalation besteht darin, dass die Situation sich als unberechenbarer zu erweisen scheint, als es in der Zeit des militärischen Gleichgewichts. Der Kalte Krieg war, zumindest in seiner Spätphase, ein durch bindende Verträge gesichertes stabiles Weltsystem. Die Satellitenstaaten, mit deren Hilfe die Großmächte ihre Einflusssphären kontrollierten, wurden sowohl durch die USA als auch durch die Sowjetunion bei der Stange gehalten.

Heute aber erscheint Moskau fast als Geisel seines tschetschenischen Vasallen Ramsan Kadyrow, dessen Etat jährlich von Moskau mit einer Milliarde US-Dollar bezuschusst wird, damit er seine Krieger und die Rebellen ruhigstellt. Der ganze Nordkaukasus wird derzeit von korrupten Clans im Sinne eines Lehenswesens bestellt. Auf diese Weise hofft der Kreml, sich die Probleme der explosiven Region vom Leibe zu halten. Tatsächlich aber mehren die neuen Clanchefs die Konflikte, in der - berechtigten - Hoffnung auf weitere Zuwendungen durch Moskau.

Auch die Warlords der abtrünnigen Gebiete in Georgien nutzen die imperialen Gelüste des Kreml, um die eigene Macht auszubauen. Und der "georgische Tiger" Saakaschwili, der Amerikas "vitale Interessen" im Kaukasus hütet, war verstört und verängstigt, als er realisierte, dass die USA seinen Blitzkrieg in Südossetien mit Zurückhaltung aufnahmen. Aberwitzigerweise hatte er erwartet, sie würden unterstützend eingreifen.

Nun ist die Sicherheitspolitik der Bush-Administration, die die Welt unsicherer und den Westen schwächer gemacht hat, bekanntlich kein bedauerlicher Ausrutscher. Politiker begehen ja immer wieder Fehler, von denen der französische Staatsmann Talleyrand einst sagte, sie seien schlimmer als Verrat. Natürlich können Interessen gelegentlich auch falsch definiert werden; in der Häufung von Fehlentscheidungen jedoch manifestiert sich eine Systemkrise.

Allerdings sind die diversen Stationen des sogenannten vitalen Interesses der USA - etwa die Bombardierung Belgrads, der aussichtslose Krieg in Afghanistan, die Invasion in den Irak, die Raketenabwehr in Polen und Tschechien bis hin zur Allianz mit Georgien - weniger auf die Regierung Bush als auf das überholte amerikanische Politikverständnis zurückzuführen. Auch für Europa ist die gegenwärtige amerikanische Interessenpolitik wenig hilfreich, denn es sollte eigentlich im vitalen Interesse der USA stehen, die EU als ein einheitliches demokratisches Gebilde zu fördern. Eine Weltmacht Europa könnte zusammen mit der Weltmacht Amerika eine Schlüsselrolle im 21. Jahrhundert spielen.

Stattdessen sehen die USA die EU als Konkurrenten und sind infolgedessen auf kurzfristige taktische Vorteile erpicht. Sie unterstützen die Osteuropäer in ihrem Misstrauen gegen Kerneuropa, anstelle diese zu mäßigen; sie schließen bilaterale Verträge zum Nachteil der Europäischen Union und verstärken - gemeinsam mit Russland - die Schwierigkeiten, die sich im Zuge des Einigungsprozesses ergeben. Dabei ist es die EU, nicht die USA, die an diese immer unsicherer werdende Region angrenzt, und sich, durchaus selbstverschuldet, ohne nennenswerte europäische Streitkräfte wiederfindet. Die Nato ihrerseits, die sich nach dem Wegfall des Erzfeindes nicht grundsätzlich reformiert hat, erweitert sich nun in Gebiete hinein, deren Sicherheit von dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis nicht ernsthaft zu gewährleisten ist. Beim ersten nicht eingelösten "Bündnisfall" wird die ganze wacklige Konstruktion auffliegen.

Dessen ungeachtet setzen die USA die Nato unter Druck, die Ukraine und Georgien aufzunehmen. Damit fordern sie den Kreml heraus. Im europäischen Interesse wäre es daher, eine eigene Verteidigung aufzubauen und die Glaubwürdigkeit sowie Handlungsfähigkeit der Nato und der EU durch das Ende einer unbegrenzten Erweiterung beider Institutionen zu retten.

Die Sowjetunion, so hieß es in den 1990er-Jahren, sei im Unterschied zu Jugoslawien fast geräuschlos abgesackt. Lediglich am Rande des zerfallenden Imperiums gab es ethnische Konflikte, die vom Westen nur bedingt wahrgenommen wurden. Nun meldet sich das Imperium zurück, und Russland führt in Georgien einen Stellvertreterkrieg gegen den Westen. Das ist seine "asymmetrische Antwort" auf die beabsichtigte Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato.

Die politische Klasse in Russland, die aus besonders konservativen, sowjetisch geprägten Sicherheitsbeamten und Militärs - sogenannten Silowiki - rekrutiert wurde, fürchtet eine Umzingelung des Landes durch die Nato. Ihr tradiertes Staatsverständnis ist ein altes geblieben: die Mobilisierung der Untertanen zur Abwehr des Feindes. Deshalb brauchen sie den demokratischen Westen als Feindbild. Ohne den Feind, der sich gegen Russland verschwört und ihm seine Satelliten streitig macht, um ihn um seine legitime Interessensphären zu bringen, liefe die Herrschaft der Silowiki Gefahr, von der Bevölkerung in Frage gestellt zu werden. Den Beruf des Regierens beherrschen sie nämlich nicht.

Russland habe nur zwei Verbündete, seine Armee und seine Flotte, pflegte Zar Alexander III. zu sagen. Diese Weltsicht vermittelt die russische Führungsriege der eigenen Bevölkerung und seinen Nachbarn bis heute. Kein Wunder, dass Moskau sich nicht imstande zeigte, ehemalige Sowjetrepubliken an sich zu binden. Die Mittel seiner Nachbarschaftspolitik waren bisher Energieblockaden, Bekämpfung der demokratischen Oppositionen und geheimdienstliche Operationen. Am Ende hat sich Moskau mit fast allen seinen Partnern überworfen. Selbst der weißrussische Diktator Lukaschenko schielt inzwischen Richtung Westen. Einzig Deutschland bleibt ein Russlandversteher. Doch auch der Bundesrepublik fällt nach dem georgischen Feldzug nichts mehr zur strategischen Partnerschaft ein.

Der Westen steht nun unter Schock und muss trotz aller Differenzen Geschlossenheit demonstrieren. Die russischen Truppen, die in ein unabhängiges Land einmarschieren, lassen daher alle Bedenken über die unbegrenzte Nato-Erweiterung als realitätsfremde Marotte erscheinen. Doch der Versuch Saakaschwilis, das abtrünnige Gebiet mit Militärgewalt zurückzuholen, zeigt die Abgründe, in die sich der Westen im Kaukasus begibt.

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