Debatte Sterbehilfe: Wen der Herrgott ruft

Heute berät der Bundesrat über ein Gesetz, das die Förderung des Freitods bestrafen soll. Dass Exsenator Roger Kusch einer Frau beim Selbstmord half, wird dafür missbraucht.

Die alte Frau kann sich nicht mehr wehren, denn sie ist ja tot. Doch wenn sie hören und lesen könnte, wie jetzt in vielen Medien über sie gesprochen wird, dann würde sie wohl einen Leserbrief aus dem Jenseits schreiben. Sie würde sich dagegen wehren, dass an diesem Freitag im Bundesrat ein Gesetzentwurf diskutiert wird, der die "geschäftsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung" unter Strafe stellt - und sich dabei ausdrücklich auf ihren Fall bezieht.

Bettina S., die 79-jährige Würzburgerin, hatte sich am Wochenende selbst getötet. Hamburgs Exjustizsenator Roger Kusch unterstützte sie dabei. Seither gilt sie als Opfer eines geltungssüchtigen Politikers - als Frau, die "Angst vor dem Pflegeheim" hatte, "vereinsamt" und "ausgenutzt" von Roger Kusch. Statt Lebenshilfe bekam sie Hilfe beim Mixen eines Giftcocktails, so die Sicht vieler Medien.

Doch glaubt man Bettina S. Abschiedsbrief, war sie nicht das schwache ausgenutzte Opfer, sondern selbstbewusste Komplizin des Spektakels. Als "Mensch, der ein erfülltes und interessantes Leben" hatte, wollte sie nicht "tatenlos einem unausweichlichen Siechtum" entgegensehen. Sie habe daher "lächelnd und zielbewusst" ihren Freitod geplant. Gemeinsam mit Kusch habe sie sich über die "moralisierenden Kleingeister lustig" gemacht. Sie schließt: "Sollte die Art meines Todes Ihnen bei Ihrem Kampf helfen, wäre das Ziel meines Lebens, die Freiheit, in Würde zu sterben, erreicht."

Der Brief wurde zwar von Kusch veröffentlicht. Aber es spricht wenig dafür, dass er ihn diktiert oder sonst manipuliert hat. Schließlich war Bettina S. - das sagen viele Menschen, die sie kannten - eine bis zuletzt aktive, beredte und selbstbewusste Dame. Wer sie jetzt als hilfloses ausgenutztes Opfer darstellt, missbraucht sie eher selbst für eigene politische Zwecke.

Roger Kuschs Art, den Freitod von Frau S. medial zu inszenieren, mag kontraproduktiv sein. Aber vieles von dem, was besonders verstört, ist einer Rechtslage geschuldet, der er lediglich den Spiegel vorhält. So zeichnete er die letzten Stunden von Bettina S. auf Video auf, um zu belegen, dass es sich um einen (straflosen) Selbstmord handelte und keine (strafbare) aktive Sterbehilfe - eben weil Frau S. bis zum Schluss die Handelnde war. Kusch ging spazieren, während Frau S. starb, weil die absurde deutsche Rechtsprechung zwar die Beihilfe zum Selbstmord straflos lässt. Doch wenn der Sterbewillige das Bewusstsein verliert, wird von anwesenden Personen verlangt, dass sie ihn reanimieren: sonst droht eine Strafe wegen unterlassener Hilfeleistung.

Auch die bizarre Selbsttötungsmaschine, die Kusch vor Monaten vorstellte, ist eine Reaktion auf das deutsche Recht. Per Tastendruck wird ein Motor in Gang gesetzt, der eine tödliche Lösung über Spritzen in die Blutbahn des Sterbewilligen drückt. So soll auch Menschen, die sich kaum noch bewegen können, ein für alle Beteiligten strafloser Selbstmord ermöglicht werden. Wie enttäuscht waren manche Medien, dass die Maschine im Falle von Bettina S. gar nicht zum Einsatz kam! Die rüstige alte Dame konnte den Becher nämlich selbst zum Mund führen.

Kusch nutzt die Straflosigkeit des Freitods aus, ist aber für eine Freigabe der aktiven ärztlichen Sterbehilfe. Wohl deshalb benutzt er demonstrativ den rechtlich falschen Begriff "Sterbehilfe" für seine Beihilfe zum Selbstmord. Allerdings wird die Freigabe der aktiven Sterbehilfe in Deutschland, dem Land der NS-Euthanasie, wohl kaum Realität werden - selbst wenn Umfragen nach 70 Prozent der Deutschen für eine Liberalisierung sind. Zu Recht hat das Tötungstabu bei uns einen besonders hohen Stellenwert.

Kuschs Vorgehen darf nun aber nicht im Umkehrschluss dazu verleiten, die bislang straflose Beihilfe zum Selbstmord zu kriminalisieren. Doch genau das ist das Ziel des Gesetzentwurfs, der heute im Bundesrat diskutiert wird. Wer "geschäftsmäßig" - also regelmäßig - andere beim Freitod berät und begleitet, soll mit Haftstrafen bedroht werden. Auf Gewinnstreben kommt es dabei nicht an. Auch eine - noch rein fiktive - "Beratungsstelle" würde sich strafbar machen.

Der renommierte ehemalige Bundesrichter Klaus Kutzer, der die Rechtsprechung zur Sterbehilfe in Deutschland maßgebend mitgeprägt hat, bezeichnete solche Gesetzentwürfe als "verfassungswidrig" (in der taz vom 24. 11. 2007). "Wenn schon der Hinweis auf Möglichkeiten in der Schweiz verboten werden soll, wäre die Meinungsfreiheit verletzt. Und wenn es um die Hilfe zum Selbstmord in Deutschland geht, dann ist die allgemeine Handlungsfreiheit berührt." Auch präventiv besteht kein Grund für ein derartiges Gesetz. Nach Daten der deutschen Gesellschaft für Suizidprävention fallen die Selbstmordzahlen in Deutschland schon seit 30 bis 40 Jahren kontinuierlich. Und obwohl inzwischen jeder im Internet Informationen zu sicheren Suizidmethoden finden kann, sind die Selbsttötungszahlen heute die niedrigsten seit hundert Jahren.

Es gibt deshalb noch lange keinen Grund, den Selbstmord zu idealisieren. Die meisten Selbsttötungen erfolgen aus einer depressiven oder psychotischen Krankheit heraus. Es kommt also sehr auf den Einzelfall an. Niemand hätte Verständnis dafür, wenn vor psychiatrischen Krankenhäusern oder an Schulen Selbstmordfibeln verteilt würden. Aber das macht ja auch keiner. Deshalb muss es weiterhin erlaubt bleiben, jenen Todkranken, die den Zeitpunkt und die Art ihres Todes selbst bestimmen wollen, Ratschläge für eine wohlüberlegte und eigenverantwortliche Selbsttötung zu geben. Auch Menschen wie Bettina S. sollen Hilfe erhalten können - sie war eben nicht todkrank, sondern hat unter ihren Lebensumständen nach eigener Aussage noch nicht einmal gelitten. Aber ihr war die Vorstellung, zum passiven Objekt einer wohlmeinenden Rundumversorgung im Pflegeheim zu werden, ein Graus.

So wichtig es ist, dass die Qualität vieler Pflegeheime steigt und dass teure schmerzmildernde Medikamente am Lebensende zur Verfügung stehen, so falsch wäre es, sich darauf zu beschränken. Bürgern wie Bettina S. würde man damit nicht gerecht. Viele Menschen, die zeit ihres Lebens aktiv und produktiv waren, können den Verfall der eigenen Leistungsfähigkeit und Selbständigkeit nur schwer ertragen. Das muss eine Gesellschaft akzeptieren können.

Die Würde des Menschen ist ein Wert an sich. Was Würde ist, muss aber im Zweifel jeder für sich selbst entscheiden. Die einen halten es für würdelos, sich einfach aus dem Leben davonzustehlen. Die anderen wollen nicht warten, bis der Herrgott sie ruft. Den Gesetzentwürfen gegen die Förderung des Freitods liegt eindeutig die erste Konzeption zugrunde. Es verstößt aber gegen die Grundgedanken eines freiheitlichen Staates, wenn er eine einseitig geprägte Konzeption der Menschenwürde per Strafrecht der ganzen Gesellschaft aufoktroyiert. Maßgebend in Deutschland ist das liberale Grundgesetz. Nicht die Scharia oder das christliche Sittengesetz.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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