Debatte Ukraine: Handeln, bevor es Krieg gibt

Die Ukraine ist innenpolitisch zerstritten und braucht dringend konkrete Hilfestellung von der Europäischen Union. Zentral ist: Visa-Pflicht lockern und den Mittelstand stärken

Aller Voraussicht nach wird heute im ukrainischen Parlament offiziell das Ende der von den "orange" Kräften gebildeten Koalition verkündet. Der Bruch zwischen den "Helden der Revolution in Orang" in der Ukraine, Staatspräsident Juschtschenko und Premierministerin Timoschenko, wäre damit besiegelt.

Wenn sich danach innerhalb von 30 Tagen keine neue Koalition findet, wird der Präsident von seinem Recht Gebrauch machen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Als Datum für die Wahl wird der 21. Dezember kolportiert. Es ist aber auch denkbar, dass sich der "Block Julia Timoschenko" mit der "Partei der Regionen" von Wiktor Janukowitsch handelseinig wird und eine neue, dann schon gegen den Präsidenten gerichtete Koalition bildet.

Äußerer Anlass für den Austritt der propräsidentiellen Fraktion "Nascha Ukraina - Nationalna Samooborona" aus der Koalition war das vergebliche Bemühen der Regierungsmehrheit, am 2. September im Parlament eine gemeinsame Erklärung zur Lage in Georgien zu verabschieden. Dies, zusammen mit der absurden Forderung von Noch-Oppositionsführer Janukowitsch, die staatliche Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien anzuerkennen, hat innerhalb der Europäischen Union verständlicherweise Irritationen ausgelöst. Der EU-Ukraine-Gipfel in Paris, bei dem Präsident Juschtschenko auf die Begleitung durch seine Premierministerin demonstrativ verzichtete, verlief denn auch um einiges distanzierter, als es vor dem Hintergrund der Krise im Kaukasus und der gespannten Beziehungen der EU zu Russland zu erwarten gewesen war.

Für die Europäische Union ist es jedoch wichtig, jetzt keine falschen Schlüsse zu ziehen und den Weg der Ukraine nach Westen weiter klar und eindeutig zu unterstützen. Die Analyse des Vorgefallenen zeigt nämlich Folgendes: Die politischen Akteure in der Ukraine sind ganz auf ihre internen Machtkämpfe fixiert und haben entweder verkannt, welche Wirkung auf die EU die Uneinigkeit in der Georgienfrage hervorrufen würde, oder diese Wirkung billigend in Kauf genommen, um im innenpolitischen Kampf zu punkten. Gleichzeitig aber steht außer Frage, dass in der Ukraine, und zwar innerhalb der Bevölkerung wie innerhalb der politischen Eliten, eine deutliche Mehrheit für eine Annäherung an die EU existiert. Die Europäische Union steht für Demokratie, wirtschaftliche Entwicklung und friedliche Konfliktbeilegung zwischen Nachbarn, auch für ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu Russland, und erscheint angesichts einer immer aggressiveren russischen Außenpolitik nicht nur den westlich orientierten Intellektuellen, sondern auch der wachsenden Mittelschicht, der jungen Generation sowie den Wirtschaftsoligarchen in der Ukraine als die beste Möglichkeit, den eigenen Staat zu entwickeln und die staatliche Unabhängigkeit zu festigen. Der Begriff EU ist in der ukrainischen öffentlichen Meinung fast ausschließlich positiv besetzt. Dessen sind sich gerade die dem Kreml nahe stehenden Politiker bewusst, und nicht von ungefähr versuchen sie in der gegenwärtigen Situation, einen geopolitischen Antagonismus Russland - USA/Nato aufzubauen und den Eindruck zu erwecken, die EU sei allenfalls neutraler Zuschauer, nicht Akteur.

Zweifelsohne wäre eine konkrete EU-Beitrittsperspektive der Ukraine der beste Anreiz für große Teile der Gesellschaft und der politischen Eliten, die notwendigen Reformen mitzutragen und zu beschleunigen, und hätte innenpolitisch eine disziplinierende Wirkung im Transformationsprozess - ähnlich wie in den 1990er-Jahren in Ostmitteleuropa. Wenn die EU aufgrund eigener Reformdefizite zum jetzigen Zeitpunkt sich nicht auf eine konkrete Beitrittsperspektive für die Ukraine festlegen kann, dann sollte zumindest im Rahmen der laufenden Verhandlungen zum "Assoziationsabkommen" in Schlüsselbereichen konkrete Zusammenarbeit vereinbart und die Integration der Ukraine in die europäischen Strukturen so weit wie möglich vorangetrieben werden. Dabei ist es erstens wichtig, alles zu unterlassen, was die Reformer und EU-Anhänger in der Ukraine bremst, auch rhetorisch. Zweitens müssen die Menschen die konkreten Vorteile einer Zusammenarbeit mit der EU spüren.

Den Bereichen Wirtschaft und Energie, Unabhängigkeit der Justiz und Korruptionsbekämpfung muss besonderes Augenmerk gelten. Wichtig ist, mehr Investitionssicherheit zu schaffen, um den schon zu beobachtenden Abfluss von westlichem Kapital zu stoppen und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russland weiter zu stärken. Im Rahmen der Verhandlungen zur Freihandelszone EU-Ukraine sollte nicht nur der EU-Markt für ukrainische Waren geöffnet, sondern auch darauf geachtet werden, dass gleichzeitig in der Ukraine Reformen durchgeführt werden, z. B. im Bereich Steuern, die zu mehr Transparenz führen und die Teilhabe kleiner und mittlerer Unternehmen am Wettbewerb fördern.

Was das Verhältnis zu Russland betrifft, sollte die EU, die in der Georgienkrise erst wirklich Profil gezeigt hat, nachdem es zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen ist, präventiv tätig werden und deutlich machen, dass nicht jeder konkrete Integrationsschritt der Ukraine auf die Zustimmung Moskaus stoßen muss: Bei allem ehrlichen Willen zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland verdient die Ukraine gerade dort Unterstützung gegenüber ihrem nordöstlichen Nachbarn, wo dieser die politische Stabilität in Europa durch sein neoimperiales Gebaren gefährdet und gegen europäische Prinzipien und Interessen handelt.

An erster Stelle bei der Gestaltung des künftigen Verhältnisses zwischen der EU und der Ukraine muss aber das Thema Visa stehen. Die bisher vereinbarten Visaerleichterungen greifen kaum. Problematisch ist vor allen, dass die europäische Visapolitik dem steigenden Lebensstandard in der Ukraine und den wachsenden Verflechtungen mit den westlichen Nachbarn nicht gerecht wird und damit der EU letztlich selbst schadet: Mag es Ende der 90er-Jahre tatsächlich noch wenig glaubwürdig gewesen sein, dass Busladungen von Ukrainern den Kölner Dom besichtigen wollten, so gehört der Tourismussektor heute, zehn Jahre später, zu den florierenden Wirtschaftszweigen. Urlaub im Ausland ist für Ukrainer nicht mehr außergewöhnlich, Schüler besuchen Sprachkurse in England, Frankreich und Deutschland, Geschäftsleute reisen in die westlichen Metropolen, und viele Menschen haben Freunde und Verwandte in der EU. Daher ist es an der Zeit, über eine Lockerung des Visazwangs nachzudenken: Nichts schadet dem Image Deutschlands und der EU mehr als die Berichte über verweigerte Visa und langwierige und oft als erniedrigend empfundene Prozeduren.

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