Debatte Vergewaltigung im Krieg: Vermiedene Erinnerung

Die Vergewaltigungen von Frauen im 2. Weltkrieg werden in Deutschland kaum diskutiert. Auch in „Unsere Mütter, unsere Väter“ dienen sie nur als Stilmittel.

Beide erleben im Laufe des ZDF-Films „Unsere Mütter, unsere Väter“ sexuelle Übergriffe: die Figuren Charlotte und Greta. Bild: ZDF / David Slama

Der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ zeigt wieder einmal, dass das weit verbreitete Vorkommen von sexualisierter Gewalt an Frauen und Mädchen im Kontext des Zweiten Weltkriegs und nach Kriegsende immer noch kaum Beachtung erfährt. Vielmehr dient die Darstellung dieser Form der Gewalt gegen Frauen im Film vor allem als Stilmittel.

In den vergangenen Jahren haben Forscherinnen und Journalistinnen viele Fakten zu Gewalt und den Strukturen des Nationalsozialismus gesammelt. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen war ein wirksames Mittel der Einschüchterungs- und Terrorpolitik im NS-Staat, beim Holocaust, bei der Okkupation fremder Staatsgebiete und durch die Alliierten zum Kriegsende und danach. Eine angemessene Aufarbeitung dieser Verbrechen gegen Frauen und der damit verbundenen Traumata der Vergewaltigungen hat in der deutschen Nachkriegsgesellschaft jedoch nicht stattgefunden. Weder ist eine Erinnerungskultur entwickelt worden, noch haben die Frauen Hilfe erfahren.

Ganz im Gegenteil: Sie wurden ausgegrenzt und stigmatisiert, auch von ihren Familien. Sie haben gelernt, ihre Gefühle einzufrieren, zu funktionieren. Viele von ihnen beschreiben, wie nach dem Trauma der Gewalt das jahrzehntelange Trauma des Verschweigenmüssens folgte. Wo konnte die damals 19-Jährige aus Pommern trauern, dass ihr in den Tagen der Flucht ihr Körper und ihre Seele so zerstört wurden, dass sie bis heute an den Folgen leidet? Ihrem Ehemann konnte oder durfte sie nicht davon berichten, seine Reaktion fiel nicht selten so aus: „Wie konntest du mir das antun?“

Was bedeutet es für jede Einzelne und für das Kollektiv, dass Frauen „darüber“ nie sprechen konnten, die traumatischen Auswirkungen aber bis heute in die Gesellschaft hineinwirken? Wie oft schreiben uns alte Frauen von ihren traumatischen Erfahrungen – und dass unsere Arbeit sie ermutigt habe, jetzt doch noch davon zu berichten, oft zum ersten Mal. Es darf nicht sein, dass nur noch Frauenorganisationen ein Interesse zeigen an der Wahrheit dieser Frauen. Auch heute noch können wir ein Stück Gerechtigkeit herstellen.

Schätzungsweise 1,9 Millionen Vergewaltigte

Die Tochter einer 1945 vergewaltigten deutschen Frau beschrieb exemplarisch in einem Brief an medica mondiale die Auswirkungen der nie bearbeiteten Erfahrungen ihrer Mutter auf die Biografie der gesamten Familie: chronische Krankheiten, Panikattacken, Suizidversuche, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, die Unfähigkeit, soziale Bindungen einzugehen und Sexualität freudvoll zu erleben.

Dies alles betraf nahezu all ihre Familienmitglieder, auch sie und ihren Bruder in der nächsten Generation. Sie selbst erlebte die Geburt ihres eigenen Kindes als extrem traumatisch. Erst Jahre später konnte sie den Zusammenhang zu den Gewalterfahrungen ihrer Mutter herstellen – es ist also davon auszugehen, dass auch ihr Kind, also die übernächste Generation, betroffen ist. In wie vielen Familien haben die unverarbeiteten Gewalterfahrungen wohl solche deutlichen Spuren hinterlassen?

Alleine in den letzten Kriegstagen und danach wurden schätzungsweise 1,9 Millionen deutsche Frauen vergewaltigt, so Helke Sander und Barbara Johr in „BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder“. Diese Erlebnisse prägen die Biografien vieler Frauen, ihre Familien und die nachfolgenden Generationen.

Heute sind diese Frauen 80 bis 100 Jahre alt. Jene, die noch leben, sprechen kaum über ihre Erfahrungen, sind aber ob ihres Alters mit Situationen konfrontiert, die Erinnerungen an erlebte Gewalt wachrufen können. Sie sind verstärkt auf die Hilfe anderer angewiesen, bei der Körperpflege oder bei Krankheiten. Die damit verbundenen Gefühle von Hilflosigkeit und Kontrollverlust werden unweigerlich mit vergangenen Erfahrungen verbunden.

Kaum Traumaorientierte Pflege

In der Altenarbeit lassen ihre Reaktionen erahnen, dass traumatisierende Erfahrungen wie frauenspezifische Kriegserlebnisse nie thematisiert oder gar aufgearbeitet wurden. Noch immer erhalten sie keine empathische Unterstützung, sondern erleben in Pflegeheimen unsensible Behandlung und fachliche Unkenntnis. Hier muss die Fachwelt endlich ihre ahistorische, oft genug auch hilflos-gleichgültige Haltung aufgeben, biografische Zusammenhänge wahrnehmen und so Retraumatisierungen verhindern.

Martina Böhmer, Referentin und Beraterin in der Altenhilfe, berichtet von einer Frau, die beim Einzug in ein Heim nach ihren Wünschen gefragt wird. Sie antwortet, dass sie aufgrund einer früher erlittenen Vergewaltigung nicht von Männern versorgt werden will. Das sagt man ihr zu und trotzdem steht am nächsten Morgen ein Pfleger vor ihr, der sie wäscht und anzieht. Traumaorientierte Pflege sieht anders aus. Ganz absurd wird es, wenn etwa männliches Pflegepersonal mit einem osteuropäischen Akzent bei den Frauen mit unverarbeiteten Gewalterlebnissen Flashbacks auslöst.

Noch keine Rede einer Kanzlerin oder eines Bundespräsidenten galt bis heute – fast 70 Jahre nach Kriegsende – den kriegsvergewaltigten Frauen. Niemand widmete ihnen ein Mahnmal, niemand machte Anstrengungen in Richtung Aufarbeitung und Entschädigung. Diese Ignoranz schmerzt die Betroffenen zutiefst. Es ist an der Zeit, diesen Frauen in unserer Erinnerung einen angemessenen Raum zu geben. Es ist an der Zeit, das Leid anzuerkennen, das sie erlitten – ebenso wie die ungeheure Kraft, mit der diese Frauen ums Überleben kämpften, für ihre Kinder sorgten und den Wiederaufbau leisteten. Es ist an der Zeit, über diese Verbrechen zu reden und den wenigen noch Lebenden Mut zu machen.

Die Aufmerksamkeit von JournalistInnen für das Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen kann hier einen wichtigen Aufklärungsbeitrag leisten. Es ist Zeit zu sprechen, damit die Kette von Gewalt und Trauma durch die Generationen hindurch unterbrochen wird – und die Töchter und Söhne und Enkel nicht immer wieder Täter- und Opferidentitäten reproduzieren müssen.

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