Debatte Videobeweis im Fußball: Der Fetisch der Fehlbarkeit

Bei der WM wird die Torlinientechnologie zum Einsatz kommen. Gegen den Videobeweis aber sträuben sich die Fußball-Traditionalisten weiter.

Obwohl Dante den Ball eindeutig hinter der Linie klärt, gilt das Tor nicht. Mit der Torlinientechnologie oder Videobeweis wäre das nicht passiert Bild: Erik Irmer

Die kleine Stadt Würselen bei Aachen macht sich weit überproportional verdient um den deutschen Fußball. Jupp Derwall, später Bundestrainer, trat dort seine ersten Bälle. Martin Schulz, heute Mr EU, gab in den frühen 70er Jahren beim westdeutschen B-Jugend-Vizemeister SV Rhenania den giftigen Linksverteidiger (wobei ihm allerdings, erinnern sich Augenzeugen, der Schalker Rüdiger Abramczik mehrfach Schleifen in die kurzen Beine flocht). Und auch bei der Fußball-WM 2014 ist Hightech aus Würselen dabei.

Dort nutzt die Fifa die Torlinientechnik GoalControl, ein Überwachungssystem für bildliche Echtzeitanalyse, entwickelt von der Firma gleichen Namens in ebenjenem 37.000-Einwohner-Städtchen. 14 Spezialkameras sind in Brasilien pro Stadion unterm Dach installiert. Bei jedem Spiel werden die GoalControl-Rechner acht Gigabyte Datenmenge pro Sekunde verarbeiten, das entspricht einem Download-Volumen von einem halben Dutzend Kinofilmen. Ganze fünf Millimeter Messtoleranz gibt es.

Das Signal „Goal“ erfolgt auf die Spezialuhr des Referees per Vibration und Tonsignal binnen weniger als einer Sekunde, übermittelt über eine geheime Spezialfrequenz. „Das übliche W-LAN war uns zu gefährlich“, sagt GoalControl-Firmenchef Dirk Broichhausen.

Es ist „ein kleines Märchen“, gespeist aus „Gründungsidealismus“, wie Broichhausen sagt. 2009 hatten frühere Absolventen der Technischen Hochschule Aachen (RWTH) die Idee. 2013 kam der Zuschlag der Fifa, schon beim Confed-Cup vor einem Jahr war die Technik im Einsatz, bei der Klub-WM im Dezember 2013 in einer überarbeiten Version ebenfalls. Als GoalControl, ein Spin-off der RWTH mit bereits 40 Angestellten, jetzt „Praktikanten für die WM“ suchte, kamen binnen Stunden, sagt Broichhausen, „gefühlt zehntausend Bewerbungen“.

„Weil das Spiel dann nicht mehr das gleiche wäre“

Keine Frage, so etwas wie der nicht gegebene 2:2-Ausgleich von England im WM-Achtelfinale 2010 gegen Deutschland oder der ignorierte Hummels-Treffer beim Pokalfinale Dortmund–Bayern wäre mit GoalControl nicht passiert. „Hätten die doch unser System“, hat Broichhausen gedacht, nachdem Dante den Ball aus dem Münchner Tor getreten hatte, sagte er jetzt bei einer Podiumsdiskussion in Aachen. Doch Liga und DFB, auch die Uefa, haben GoalControl bislang abgeblockt. 170.000 Euro im Jahr pro Klub für Installation, Bedienung, Wartung, Garantie war zwei Drittel der deutschen Erst- und Zweitligisten (Jahresumsatz: zwei Milliarden Euro) im März zu viel. Nach Dante gibt es eine neue Initiative der Befürworter.

Die Debatte um Torlinientechnik ja oder nein klammert eines aus: das sinnvolle, preiswerte und leicht handhabbare Instrument des Videobeweises. Bei der Debatte in Aachen lehnten ihn alle ab, auch Broichhausen – der schnöde Blick eines Schiedsrichters auf TV-Wiederholungen, könnte man unterstellen, würde den Verkaufserfolg von GoalControl abbremsen. „Nein“, sagten auch Alemannias Exbundesligaspieler Reiner Plaßhenrich und ein Schiedsrichter der NRW-Liga: „Weil das zu lange dauert.“ „Weil das Spiel dann nicht mehr das gleiche wäre.“ „Weil man auch mit dem Videobeweis nie 100-prozentige Sicherheit hätte.“ „Weil der Spielfluss nicht beibehalten werden kann.“

Wenn man nur 99-prozentige Sicherheit hätte nach Augenscheinnahme, wäre das doch besser als Dante, könnte man nun einwenden. Nein, so die Ablehner – ob ein Spiel „am Ende fünf Stunden dauern soll“, ätzte Plaßhenrich. Wenn jeder dauernd wegen irgendetwas, womöglich wegen einer Einwurf-Entscheidung, den Videobeweis verlange.

Cricket, Football, Basketball

Schiedsrichter und Verband („Videobeweis macht die Leute verrückt“) wollen ohnehin bei der „Tatsachenentscheidung“ bleiben – Motto: einmal entschieden und für immer wahr, selbst wenn es falsch ist. Man kann die bockige Ablehnung einen Wunsch nach exklusiver Deutungshoheit nennen oder schlicht Macht- und Herrschaftsdenken. Goal Control – ja, da dürfen Kameras helfen. Match Control – nein, das machen wir allein mit all unserer Fehlbarkeit.

Als ob es nicht aus anderen Sportarten genügend Gegenbeispiele gäbe. Das Überwachungssystem Hawk-Eye beim Tennis kann von jedem Spieler angefordert werden, die Häufigkeit ist dabei je nach Turnier gedeckelt. Unterbrechungsdauer: ein paar Sekunden. Von den Zuschauern wird das längst als Extraspaß goutiert. Beim Eishockey nehmen sich die Schiedsrichter ab und zu Auszeit für ein Studium der Kamerabilder, so haben sie belastbare Argumente. Das Publikum nimmt die kurzen Pausen mit Spannung. Im Fernsehen könnte bei einem Fußballspiel sogar kurz Werbung laufen; und kaum wer würde wegzappen, weil man ja nicht weiß, wann genau die Entscheidung fällt.

Andere Videobeweis-Sportarten sind: Cricket, Football oder Basketball – aber nur in der NBA. Im autoritätsgläubigen Deutschland musste jetzt ein BBL-Viertelfinale nach einem grotesken Regelverstoß der Schiedsrichter sogar wiederholt werden. Der kurze Blick auf TV-Bilder hätte umgehend geholfen.

Christoph Pauli, Sportchef der Aachener Nachrichten, nannte bei der Debatte um Goal Control den FC Bayern ganz nebenbei den „stellvertretenden Pokalsieger“. Eine hübsche Formulierung. Einen stellvertretenden Weltmeister kann es am 13. Juli auch geben, beispielsweise durch eine Abseits-Fehlentscheidung. Vielleicht wieder für Dante & Co – im Finale gegen Deutschland? Was die Fußball-Romantiker dann wohl sagen?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.