Debatte Was ist Populismus?: Symptom des Versagens

Wahrscheinlich benötigt das 21. Jahrhundert neue politische Begriffe. Über die Leerformel „Populismus“ und ihren Gebrauch.

EIn Zeichnung mit vielen Schildern auf denen steht „Wir sind das Volk“

Zeichnung für eine Open-Air-Installation zum Thema „Friedliche Revolution 89/90“, 2009 Foto: Imago/Bernd Friedel

Die Tatsache, dass man viel oder leidenschaftlich über Dinge spricht, bedeutet nicht, dass man tatsächlich weiß, worüber man redet. So ist etwa der Begriff des „Populismus“ wie kein anderer zu einer Leerformel geworden. Der Begriff qualifiziert und diskreditiert, wird polemisch oder analytisch gebraucht, bezieht sich auf politische Programme und dumpfe Regungen.

Er meint linke oder rechte Populismen oder ein Gemisch aus beiden. Er verweist auf einen Bodensatz aus mäßig artikulierten Meinungen und Abwehrreflexen, die von unten herauf drängen – oder umgekehrt auf all jene Putinismen, Orbánismen, Erdoğanismen oder Trumpismen, in denen Machtkalküle, Herrschaftsgesten, Geschmacklosigkeiten, hochgedrehte Lautstärken, Mobilisierungswillen oder eine neuerdings angesagte politische Häme stecken.

Man hat es also mit einem umherschwärmenden Begriff zu tun, dessen Grenzen unklar oder gar nicht vorhanden sind. Mehr noch: Gerade diese Unschärfen und Verwirrungen scheinen die Bedingungen für seine aktuelle Konjunktur zu sein. Je leerer die Vokabel, desto heftiger kann sie von den politischen Windstößen herum geblasen werden.

Allerdings sind diese Ungenauigkeit und ihr begriffliches Unwesen womöglich ein Symptom dafür, dass sich die politische Geografie verändert hat und ältere Klassifikationssysteme versagen. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen autoritäre Regime schlicht totalitär, Basisbewegungen demokratisch, rechte Rechte astrein faschistisch waren oder derjenige, der sich ‚links‘ nennen mochte, sich im Passepartout sozialistischer Programme wiederfinden konnte.

US-amerikanische People’s Party

Wahrscheinlich benötigt die Politik des 21. Jahrhunderts neue oder überarbeitete Begriffe für politische Machtgefüge, die vor unseren Augen allmählich Gestalt annehmen. Angesichts dieser unübersichtlichen Lage lassen sich einige Thesen formulieren, die weniger eine Bestimmung des heutigen Populismusbegriffs als eine Annäherung an jene Problembezirke versuchen, die mit seiner Verwendung aufgerufen werden.

So schwierig oder unmöglich es ist, den „Populismus“ zu definieren, so genau kann man beobachten, welche Zuschreibungen oder Selbstzuschreibungen damit verbunden sind – das heißt, mit welchen demonstrativen Gesten man andere oder sich selbst so nennt. Man muss wohl daran erinnern, dass es zunächst die US-amerikanische People’sParty war, die die abwertenden Ausdrücke „pops“, „populites“ und „populists“ positiv für sich besetzte. Damit beanspruchte sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein politisches Programm für sich, das die Interessen der Farmer, eine Opposition gegen Großbanken und Konzerne, die Rechte von Schwarzen und Frauen, die Forderung nach bezahlbaren Krediten und verlässlichen Infrastrukturen vertrat.

Frankreichs Front National

Umgekehrt hat etwa in Frankreich Marine Le Pen das Abschätzige des Populismus aufgegriffen, umgewendet und in einen Kampfbegriff für angebliche und rumorende „Mehrheiten“ gegen sogenannte „Eliten“ investiert. Mit solidarischer Interessenvertretung hat der Populismus unserer Tage wenig zu tun. Es geht nicht primär um politische Sachgehalte, sondern um dumpfe Feindschaftserklärungen. Die politische Willensbildung erschöpft sich in der Regung des Unwillens. Mit dem Populismus steht insofern die Trennschärfe zwischen der Bejahung politischer Interessen und der Organisation von Ressentiment auf dem Spiel.

Der „Populismus“ ist im Übrigen kein Krisenphänomen, sondern ein Doppelgänger moderner Demokratien. Er ist Begleiter oder Schattenwurf dessen, was man liberale Demokratie oder Repräsentativsystem nennt. Er bezeichnet dabei ein mehrfaches Verwerfungspotential: Einerseits wird in ihm eine prekäre Abgrenzung zwischen Stimmvolk und bloßem Geraune virulent. In ihm hallen ältere Unterscheidungen nach, die etwa in der Antike zwischen dem plethos (der bloßen Menge) und dem politisch gefassten demos (den wahlberechtigten Bürgern) gemacht wurde. In ihm wiederholen sich die jüngeren Differenzen von Volk und Pöbel, in ihm manifestiert sich eine politische Phonetik, die darüber entscheidet, was eine schon artikulierte politische Stimme oder noch unartikuliertes Lautmaterial ist.

Andererseits verweist er auf Repräsentationslogiken, auf die Wege und Verfahren, mit denen man demokratische Teilhabe beansprucht: direkt oder indirekt, episodisch oder dauerhaft, durch Parteien gefiltert oder vom Volk selbst ausgeübt. Der Begriff des „Populismus“ entfaltet seine polemische Energie im Streit um die Art und Legitimität politischer Partizipation.

Deutschlands AfD

Das berührt zugleich die Frage, wo und mit welchem Zugriff politische Macht adressiert werden kann. Wenn es stimmt, dass, wie Brecht gesagt hat – alle Gewalt zwar vom Volk ausgeht, aber die Frage bestehen bleibt, wohin sie dann geht, so umfasst der Begriff des „Populismus“ auch dieses Lokalisierungsproblem. Nicht von ungefähr versammeln sich Empörte unter seinem Banner, die mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ominöse Mächte im Dunklen, auf die „da oben“ und „da draußen“ deuten – auf Schuldige in den verschworenen Zirkeln von Lobbys oder Lügenkartellen, in Brüssel oder in der Presse.

Auch diese Unterscheidungslinie wird also mit dem Populismusbegriff aufgerufen: ob Macht formell oder informell organisiert ist, ob Regierungsmacht sich in adressierbaren Instanzen und Institutionen oder eher in losen Netzwerken und temporärem Engagement ansammelt. Die Rede vom „Populismus“ schließt ein Problem politischer Formgebung ein.

Das populistische Wortfeld umfasst nicht zuletzt auch einen intimen Zusammenhang von Öffentlichkeit und politischem Affekt. In ihm regt sich ein Register von Aufruhr und politischer Leidenschaft. Unübersehbar steigt der Populismusverdacht mit der Wallungsbereitschaft von Mitbürgern, die Zorn und Wut auf der Straße abladen, um damit zu demonstrieren, sie seien im Recht. Wir brauchen offenbar eine politische Affektenlehre, die etwa überprüfen muss, welche politischen Reserven von Aufruhr und Rebellion heute mit zornigen Statements oder Statements des Zorns beansprucht werden. Mit dem Begriff des „Populismus“ wird also eine Bereitschaft zu einem – wie auch immer begründeten – Unfrieden identifiziert.

Wer die Vokabel des „Populismus“ ausspricht, artikuliert also – für sich oder für andere – ein Verhältnis von Politik und Ressentiment, äußert ein demokratisches Teilhabeproblem, laboriert an einem Bestimmungsversuch politischer Macht und macht unausgeschöpfte Ressourcen politischer Passion ausfindig.

Griechenlands Syriza

Darum bleiben wahrscheinlich nur zwei Alternativen für den weiteren Gebrauch dieses Begriffs bestehen. In der einen versteift man sich auf den Erhalt einer bequemen Leerformel. Mit ihr ist ein Blinkersystem für jene ominöse politische „Mitte“ gemeint, die nie genau weiß, wo sie politisch steht, aber mit hektischen Warnzeichen nach „rechts“ oder „links“ sich saubere Hände oder gutes Gewissen bewahrt. Ob Front National, Syriza oder Podemos – all das gerät für den politischen Mittelstand zum selben populistischen Einerlei.

Demgegenüber sollte man den „Populismus“ wohl für politische Bündnisse reservieren, mit denen Aggressionen und Ressentiments laut und durchsetzungsfähig werden konnten. Das ist unter freundlicher Mithilfe „bürgerlicher“ Parteien etwa in der deutschen Flüchtlingspolitik und in der Verschärfung von Asylrechten geschehen; das hat in Großbritannien zu einem Verwandlungsgeschehen geführt, mit dem aus der Anklage desolater Sozialstandards das Feindbild europäischer Arbeitsmigranten herausgearbeitet worden ist.

Und: Das erhält heute Weltmachtniveau dort, wo sich – wie in den USA – die Profitinteressen von Interessensgruppen mit den Exklusionsbedürfnissen jener knappen Minderheit einer Wählerschaft verbinden, für welche das Volk nur „wir“, aber nicht mehr die anderen sind. Diese Minderheit ist ironischerweise eine, die dank des geltenden Wahlrechts so sehr Nutznießerin demokratischer Reglements ist wie keine sonst.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Joseph Vogl lehrt ebenfalls am Institut für deutsche Literatur der HU. Zuletzt erschien bei diaphanes „Der Souveränitätseffekt“.

lehrt Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im nächsten Jahr erscheint ihr Buch „Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton“ im Fischer Verlag.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.