Debatte um „Antideutsche“: Kampf gegen Gespenster
Wer heute von „Antideutschen“ spricht, verkennt die Historie hinter dieser Zuschreibung. Eine Antwort auf einen Debattentext an dieser Stelle.
V on Marx wissen wir, dass sich Revolutionär*innen mitunter in Gewänder aus der Vergangenheit hüllen – wie Schauspieler*innen in Historienstücken. Ebenso geschieht es, dass Menschen, die sich für eine Sache engagieren, Feind*innen beschwören, die in der Gegenwart gar nicht oder nicht mehr existieren. Wie soll man das beschreiben? Als Kampf gegen Gespenster? Einschlagen auf Pappkameraden? Die sogenannten Antideutschen sind gerade solche Pappkameraden.
Wer alt genug ist, um die 1990er Jahre politisch bewusst erlebt zu haben, wird sich vielleicht an eine politische Strömung erinnern, die so genannt wurde und sich – in selteneren Fällen – auch selbst so nannte. Diese Geschichte lässt sich anhand zweier linker Medien erzählen. Damals entschied der damalige konkret-Herausgeber Hermann Gremliza, die Scud-Raketen, die Saddam Hussein während des Golfkrieges auf Israel abfeuerte, nicht länger antiimperialistisch zu rechtfertigen – ein Bruch mit dem seit dem Sechstagekrieg 1967 in der Linken hegemonialen Antizionismus.
In der Redaktion der Tageszeitung Junge Welt brach ein Streit aus, der später zur Spaltung der Redaktion und zur Gründung der Wochenzeitung Jungle World führte. Diese Entwicklung in der linken Publizistik reflektiert die innerlinken Debatten nach dem Mauerfall. Das Label „antideutsch“ entstand damals als Markierung für diejenigen, die sich besonders kompromisslos der Entstehung eines neuen „Großdeutschlands“ entgegenstellen wollten. Eine Ausdifferenzierung innerhalb jenes Lagers, das sich dem Nationalismus und nicht nur den Neonazis auf der Straße widersetzte.
Wie verhält man sich zu dem, was Marx und Engels als „deutsche Ideologie“ beschrieben hatten? Gibt es eine Neuauflage des „deutschen Sonderwegs“ wie Ende des 19. Jahrhunderts? Wenn ja, wohin würde die Reise diesmal gehen? Man meint, die grobe Richtung zu kennen: weg „vom Westen“. Deutschland hatte, lange vor der Nazizeit, den Hang, sich nach Osten zu orientieren, um sich von der westlichen Zivilisation abzuwenden. Eine Art imperialistische Identitätspolitik: Westliche Länder seien „nur“ eine Zivilisation, man selbst sei aber eine „Kultur“.

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Klingt das nicht vertraut aus mancher heutigen Debatte um Postkolonialismus? Genau solche Kurzschlüsse gilt es zu vermeiden. Weil die identitäre Mobilisierung längst zum Kernbestand rechter und autoritärer ideologischer Raumergreifungsstrategien gehört. Das Milieu, das sich selbst als „antideutsch“ bezeichnete, gibt es heute kaum noch. Längst ist der Begriff zur Fremdzuschreibung geworden – für jene Linke, die jedem Antisemitismus widersprechen, nicht nur dem der Rechten. Doch verschleiert das mehr, als es enthüllt. Und das ist gewollt, denn dabei gelingt ein bemerkenswerter Taschenspielertrick: Man kann den so markierten Gegner*innen genau das unterjubeln, was diese seinerzeit konsequent kritisiert hatten, nämlich das „Wiedergutwerden der Deutschen“ (Eike Geisel) als nationale Imagekampagne.
Intellektuell unredlich
Es ist intellektuell unredlich und historisch inkorrekt, den „Antideutschen“ von damals die Berufung auf eine Staatsräson bei der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in die Schuhe zu schieben. Denn es ist genau umgekehrt. Es waren diese „Antideutschen“, die die staatlichen Strategien als Erste benannten und scharf kritisierten, die heute zur Rede vom „importierten Antisemitismus“ führen, um vom Antisemitismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft abzulenken. Heute solche Pappkameraden aufzustellen, ist auch ein Ablenkungsmanöver. Es lenkt vom real existierenden Antisemitismus innerhalb der Linken ab, egal ob im Globalisierungsdiskurs oder beim Blick auf den sogenannten Nahostkonflikt.
Trauriger Tiefpunkt war die „All Eyes on Gaza“-Demo Ende September in Berlin. Den Organisator*innen wollte es nicht gelingen, an die Geiseln der Hamas zu erinnern, die Gruppe „Israelis for Peace“ durfte keinen Redebeitrag halten. Kein Problem dagegen bereiteten offenbar zahlreiche Symboliken, auf denen Israel von der Landkarte getilgt war – der dystopische Traum der Hamas.
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt war zur gleichen Zeit eine Gruppe von 150 Menschen am Berliner Dom zur „Shalom-Salam“-Kundgebung versammelt. Sie machten das, was die Orga der Großdemonstration gar nicht erst versucht hatte: Sie schufen den Ort, an dem friedensbewegte Israelis, Palästinenser*innen und auch hiesige Linke zusammenkommen konnten – für eine sofortige Beendigung des Krieges, die Rückkehr der Geiseln, ein Ende des Terrors.
Bis heute verweigern viele sich „palästinasolidarisch“ nennende Gruppen nicht nur friedensbewegten Israelis das Rederecht, sondern sogar Palästinenser*innen, die die Hamas verurteilen. Für die Demos gegen die Hamas im Gaza-Streifen interessieren sich oft weder die, die „Free Palestine“ überall an die Wände sprühen, noch diejenigen, die „from Hamas“ daruntersetzen. Wer ausschließlich Netanjahus rechtsradikales Kriegskabinett verurteilt, ohne den mörderischen Antisemitismus zu benennen, der die Hamas zu ihren Gräueltaten motiviert, muss sich die Frage gefallen lassen, warum die Hamas die Geiseln nicht längst freigelassen hat.
Wenn die Linke die Erkenntnisse verdrängt, die seit den 1990er Jahren über die fatale Rolle des Antizionismus in der Neuen Linken präsent sind, wird sie auch die gegenwärtige Lage kaum begreifen. Eine Linke, die die komplexe Lage in Nahost nicht zu verstehen versucht, sondern stattdessen in Fankurvenmentalität wieder eine „Massenbewegung“ sein will und mit Internet-Heldenpose auf gefühlte oder bewusst verzerrte „Wahrheiten“ setzt, eine Linke, die einfach nur noch Stimmungen bedient, muss sich fragen lassen: Ist es links, die „Große Regression“ zu befeuern, die sich anschickt, die letzten Bastionen von Vernunft und Aufklärung zu schleifen? Ist man nicht längst ein Teil von ihr geworden?
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