Debatte um neue Wehrpflicht: Ist Losen eine Form der Willkür?
Die Koalition überlegt, auszulosen, wer gemustert werden und wer Wehrdienst leisten muss. Ob das verfassungsrechtlich geht, ist sehr umstritten.

Falls nicht genug junge Männer freiwillig zum Bund gehen, will die schwarz-rote Koalition die ausgesetzte Wehrpflicht wieder einzuführen. Die Dienstpflichtigen könnten dabei ausgelost werden. Ob das rechtlich zulässig ist, muss dann das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
Wegen der Bedrohungslage soll die Bundeswehr von derzeit 183.000 Soldaten auf 260.000 Soldaten bis Anfang der 2030er Jahre anwachsen. Das soll dadurch geschehen, dass die Zahl derjenigen gesteigert wird, die freiwillig zur Bundeswehr gehen. Der Dienst soll attraktiver werden, insbesondere durch besseren Sold.
Falls das nicht gelingt, will die Koalition auf Wunsch der CDU/CSU eine begrenzte Zahl von jungen Männern zwangsweise einziehen, um die Sollstärke zu erreichen. Vorige Woche hatte eine kleine Koalitions-AG um Norbert Röttgen (CDU) und Siemtje Möller (SPD) dafür einen Vorschlag gemacht: In einer ersten Runde sollte ausgelost werden, wer verpflichtend zur Musterung muss. In einer zweiten Runde sollte dann abermals gelost werden, wer auch tatsächlich zum Dienst verpflichtet wird.
Verteidigungsminister Boris Pistorius legte gegen die Einigung zwar ein Veto ein. Doch er ist nicht generell gegen das Losen als Methode. Pistorius will vor allem erreichen, dass alle jungen Männer eines Jahrgangs gemustert werden. Als neuer Kompromiss liegt nahe: Erst werden alle gemustert, dann aber nur wenige Ausgeloste zum Wehrdienst eingezogen.
"Massive Ungleichbehandlung"
Doch ist eine Los-Auswahl der Wehrpflichtigen überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar? Die konventionelle Sichtweise vertritt der Anwalt David Werdermann in einem Gutachten für Greenpeace. Danach ist ein Auslosen der Wehrpflichtigen eindeutig verfassungswidrig. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sehe das Grundgesetz eine "allgemeine" Wehrpflicht vor. Damit sei nicht zu vereinbaren, nur fünf- bis zehntausend Männer eines Jahrgangs zwangsweise einzuziehen.
Zum anderen müsse die Auswahl der Wehrpflichtigen nach sachlichen Kriterien erfolgen. Das Auslosen sei jedoch pure Willkür und könne eine so massive Ungleichbehandlung - manche müssen sechs Monate zum Bund, die meisten aber nicht - auf keinen Fall rechtfertigen.
Auf der anderen Seite steht Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der in einem Gutachten für die CDU/CSU-Fraktion zum unkonventionellen Ergebnis kommt, dass das Auslosen der Wehrpflichtigen nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Di Fabio argumentiert, dass das Grundgesetz schon gar keine "allgemeine" Wehrpflicht vorsieht. Das sei nur eine Erfindung der Rechtsprechung.
Eine allgemeine Wehrpflicht, bei der Jahr für Jahr bis zu 300.000 junge Männer eingezogen werden, würde heute sogar zu einer "Überstrapazierung" der Bundeswehr führen und damit die Landesverteidigung gefährden. Deshalb könne der Bundestag, wenn derzeit weniger Soldaten benötigt werden, auch eine sogenannte "Kontingent-Wehrpflicht" für nur einen Teil des Jahrgangs einführen.
Gleiche Chance durch Zufall
Dabei hält Di Fabio das Losen für die einzig vertretbare Auswahlmethode. Der Zufall sei keine Willkür, sondern das Gegenteil davon, nämlich gerecht. Der Zufall sorge dafür, dass alle die gleiche Chance haben und Manipulationen und Umgehungsversuche ausgeschlossen sind.
Sowohl Werdermann als auch Di Fabio gehen also davon aus, dass Willkür bei der Wehrpflicht verboten ist. Sie streiten nur darüber, ob das Losen nun Willkür ist oder Willkür verhindert. Dabei sind beide Positionen juristisch gut vertretbar. Sollte der Bundestag tatsächlich eine Los-Wehrpflicht einführen, müsste also letztlich das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob sie zulässig ist.
Am elegantesten wäre es natürlich, die neuen Regeln mit Zwei-Drittel-Mehrheit direkt im Grundgesetz zu verankern. Doch dies erscheint derzeit illusorisch, weil Grüne, Linke und AfD die neue Los-Wehrpflicht aus unterschiedlichen Gründen ablehnen.
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