Debatte ums Bürgergeld: Der Klang einer Beförderung

Ist das Bürgergeld echter Fortschritt? Oder Upgrade des längst Bekannten? Eine kleine Geschichte der Unterschichtsverachtung.

Arno Dübel mit Bierflasche und Zigarette

„Deutschlands bekanntester Arbeitsloser“: Arno Dübel bei der Party (hier 2010 in Hamburg) Foto: Lars Berg/imago

Arno Dübel freut sich aufs kommende Jahr. Denn dann werde er „zum Bürger befördert“. So steht es auf der Facebookseite des Mannes, der vor gut 20 Jahren als „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ bekannt wurde, als „Sozialschmarotzer vom Dienst“ und „berühmtester Hartz-IV-Empfänger“.

Ach, was waren das aufregende Zeiten, damals, unter rot-grüner Regierung. Nach 16 Jahren Helmut Kohl schien alles neu. Eine Neue Mitte hatte Gerhard Schröder 1998 bei seinem Einzug ins Kanzleramt beschworen und die Menschen ermuntert, ihr Erspartes in die New Economy zu stecken, etwa in nagelneue Telekom-Aktien. „Achtung, wir haben jetzt Neoliberalismus!“, warnten kluge Leute, und wer nicht auf Anhieb kapiert hatte, was das wohl heißen mochte, bekam es 2001 von Gerhard Schröder noch mal erklärt: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ Just in jenem Jahr begann die kleine Medienkarriere des Arno Dübel.

Dessen beruflicher Werdegang ist schnell erzählt: 1974 brach er eine Malerlehre ab – Punkt. Seither lebt Dübel von dem, was einem Langzeitarbeitslosen an Sozialleistungen zusteht. Erst hieß es Sozialhilfe. Dann Hartz IV. Nun also bald Bürgergeld. „Wer arbeitet, ist blöd“: So hat Dübel es in Dutzenden Talkshows verkündet. So gab er es der Bild zu Protokoll. Und so postet er es jetzt, mit 66, bei Facebook: „Das neue Bürgergeld ist die Chance auf ein noch schöneres Leben auf Kosten vom Deutschen Staat. Lasst die Leute arbeiten und nehmt mehr Geld ab 1. 1. 2023 mit.“

Vor lauter Krisen schien der Sozialschmarotzer zuletzt vergessen – doch nun, da es an die Abschaffung von Hartz IV geht, kehrt er auf die öffentliche Bühne zurück. Das ist nicht Arno Dübels Schuld, viele kennen ja nicht mal seinen Namen. Nein, der „Sozial­schmarotzer“ kann heute Heiko, Helga oder Hassan heißen, er muss kein dürrer Kettenraucher sein, damit wieder über ihn geredet wird.

Da ist etwa Mario Lochner, Finanzblogger und Redakteur bei Money, Ableger des Magazins Focus, das schon 1995 „Das süße Leben der Sozialschmarotzer“ zur Titelstory erhob. Neulich, zu Halloween, verglich Lochner bei Twitter die Menschen, die bald Bürgergeld beziehen werden, mit faulen Kindern, die anderen die Süßigkeiten klauen.

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Die Junge Freiheit raunte vor drei Monaten mal wieder von der „sozialen Hängematte“, und der Vize-Fraktionschef der AfD im Bundestag, Norbert Kleinwächter, dachte laut über Menschen nach, die verlernt hätten, „in der Früh aufzustehen“ und stattdessen beigebracht bekämen, „auf der Couch zu liegen“.

Eleganter und behutsamer – fast schon zärtlich – klang es bei CDU-Chef Friedrich Merz, als er über den Menschentypus „Versorgungsempfänger“ sinnierte. Oder bei Michael Kretschmer, sächsischer Ministerpräsident, der im MDR herumdruckste: „Die Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen, die etwas leisten, die fragen doch: Ist dieser Sozialstaat wirklich richtig austariert?“ Immerhin steht es schon in der Bibel: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.“ August Bebel, Adolf Hitler, Josef Stalin und Franz Müntefering haben das zitiert – warum nicht auch ein Christdemokrat?

Die einen beklatschen das rhetorische Nachuntentreten. Die anderen verurteilen es als Zynismus im Trump-Stil. Manche sprechen von „Kulturkampf“. Viele tragen dieser Tage wieder das Wort „Sozialschmarotzer“ auf der Zunge, aber sie spucken es nicht aus. Man hört es trotzdem. Schließlich wissen heute alle Bescheid über die Symbolkraft von Namen und Vokabeln, über „Hate Speech“ und Klassismus, Wording und Framing.

Mit dem Bürgergeld will die Ampel-Koalition die Lebensumstände derjenigen, die aus dem geregelten Arbeitsmarkt geglitten sind oder nie drin waren, ein bisschen verbessern. Mit einem Hauch mehr Geld und Weiterbildungsangeboten, besseren Zuverdienstmöglichkeiten, einem höheren Schonvermögen, mit etwas mehr Zeit, Raum, Ruhe, um finanziell und sozial wieder auf die Beine zu kommen – bevor das Jobcenter den Druck dann doch wieder erhöhen kann. Skeptiker und Zweiflerinnen sprechen von Hartz V: einem billigen Upgrade des längst Bekannten.

Gewerkschaften und Sozialverbände jedoch begrüßen das Projekt. Es „reformiert ein Menschenbild“, meinte unlängst auch taz-Kollegin Anna Lehmann: „Der antriebslose Arbeitslose, der lieber Tiefkühlfritten vor der Glotze konsumiert, als sich um Arbeit oder Schulabschluss zu bemühen, ist passé. Stattdessen traut die Ampel den Menschen, wenn auch zaghaft, zu, dass sie tätige Mitglieder der Gesellschaft sein wollen.“

Anhaltende Arbeitslosigkeit und Aufstockungsbedarf haben viele Ursachen. Krankheit, die Alleinverantwortung für ein Kind, psychische Belastungen, eine Sucht, eine gescheiterte Freiberuflichkeit. Und eben die Arno-Dübel-Jahre, die Schröder-Ära. Hartz IV ist (auch) eine Folge von Hartz I bis III: Leiharbeit, Zeitarbeit, Scheinselbständigkeit – ideale Voraussetzungen für die Vermehrung der working poor, Menschen, die von ihren Jobs nicht leben können. Rund acht Millionen abhängig Beschäftigte arbeiten heute auf Niedriglohnniveau, 46 Prozent mehr als 1995.

Die Neue Mitte: Sie verdünnisiert sich

Seit 2005, der Einführung der Hartz-Gesetze, habe sich die Mitte „nicht wieder erholt“, ist bei der nicht gerade kommunismusverdächtigen Bertelsmann-Stiftung zu lesen. 1995 zählten demnach 70 Prozent der Bevölkerung zu den mittleren Einkommensgruppen, inzwischen sind es knapp über 60. Laut Statistischem Bundesamt ist heute jeder Fünfte „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“.

Die „Multijobberin“, der „Flaschensammler“, die „Tafel-Kundin“: Sie alle sind in den Nullerjahren geboren und leben nun mitten unter uns. Anders gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, selbst eines Tages zum „Versorgungsempfänger“ (Merz) zu werden, ist den Deutschen näher an die Pellen gerückt.

Karl Marx schimpfte auf das „Lumpenproletariat“, die „passive Verfaulung der untersten Schichten“. Der SPD-Mann Alfred Grotjahn sah in „Arbeitsscheuen“ und „Verwahrlosten“ 1912 „eine Gefahr und eine Bürde für jedes Gemeinwesen“. Die Nazis hetzten gegen „Ballast­existenzen“ und „Asoziale“. In den frühen Hartz-Jahren übernahmen sogenannte „Neue Bürgerliche“ den Job. Ihr Spektrum reichte von „altfränkisch bis exzentrisch, lokal bis global“, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Kaschuba konstatierte: eine „Bourgeoisie ohne Bürgerlichkeit“.

Der Publizist Norbert Bolz, einst im Beirat des CDU-Wirtschaftsrats, lästerte 2009 über eine sozialstaatliche „Tyrannei der Wohltaten“, die eine „Sklavenmentalität“ hervorbringe. 2010 setzte der damalige Focus-Chef Wolfram Weimer eine Tirade über einen „linksliberalen, feministischen, sozialstaatsfixierten Multikulti-Wischiwaschi-Mainstream“ in sein Blatt. FDP-Mann Guido Westerwelle brachte die „spätrömische Dekadenz“ ins Spiel, sein Parteikollege Daniel Bahr grämte sich: „In Deutschland bekommen die Falschen die Kinder.“

Nur in der Feststellung, wer alles nicht dazugehörte, ließ dieses neu-bürgerliche „Wir“ sich fassen, und das SPD-Problem Thilo Sarrazin war dabei besonders akribisch: „Menschen, die in Trainingsanzügen rumschlurfen“, Langzeitarbeitslose („regulieren die Temperatur mit dem Fenster“), Hartzerinnen, die „durch Kinder ihren Lebensstandard verbessern“, „Kopftuchmädchen“ – eine „funktions- und arbeitslose Unterklasse“, die sich „verfestigt“ und „vermehrt“. Die Neue Bürgerlichkeit kippte in eine „Rohe Bürgerlichkeit“, wie der Soziologe Wilhelm Heitmeyer es 2011 formulierte. Und 2013 gründete sich dann die AfD.

Deshalb geben sich gerade alle Mühe, so vorsichtig wie möglich zu sprechen. Erst recht die Ampel-Parteien: SPD und Grüne, unter deren Ägide die Prekarisierung so richtig in Schwung kam. Und die FDP, die ihre Überheblichkeit den Verlierern gegenüber jahrelang so überdeutlich raushängen ließ. Aber natürlich auch die Union, die mit der AfD jetzt die Oppositionsbänke teilt und keinesfalls mit ihr verwechselt werden will.

Überraschenderweise hat Friedrich Merz kürzlich einmal etwas gar nicht so Dummes gesagt: Mit der Grundsicherung für Alte und Kinder werde es womöglich bald „nicht mehr viele geben in dieser Gesellschaft, die nicht auf irgendein soziales Transfersystem zurückgreifen können“. Die Neue Mitte: Sie verdünnisiert sich. Darauf muss man die Menschen vorbereiten. Man muss ihnen die Angst nehmen. Die Hartzerin wird zur Bürgergeldempfängerin – zur bedürftigen Bürgerin – irgendwie also: bürgerlich. Arno Dübel hat Recht. Es klingt wie eine Beförderung.

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